Viel zu spät, wie es in diesen Tagen so häufig geschah, verstand ich, dass auch Johns intime Erinnerungen allein ihm gehörten.
»Ich wollte nicht in Euch dringen«, sagte ich entschuldigend.
Er lächelte schwach, aber mit aufrichtigem Humor.
»Ich fühle mich geschmeichelt, Madam, dass Ihr Euch so für mich interessiert. Ich kenne viel … konventionellere Ehen, in denen es die Partner vorziehen, freiwillig nichts über den anderen zu erfahren.«
Mit beträchtlicher Verblüffung begriff ich, dass auch zwischen John und mir jetzt Intimität bestand – für uns beide unerwartet und ungebeten, aber unleugbar da.
Diese Erkenntnis machte mich schüchtern, und ihr folgte eine weitere, praktischere Erkenntnis auf dem Fuße: dass nämlich eine Person mit funktionierenden Nieren nicht ewig im Bett liegen und Bier trinken kann.
Er bemerkte meine kleine Bewegung, und kommentarlos stand er auf und zog seinen Morgenrock an, bevor er mir den meinen holte – den, wie ich ein wenig beklommen feststellte, eine freundliche Seele über einen Stuhl am Feuer gehängt hatte, damit er warm wurde.
»Wo kommt das denn her?«, fragte ich und wies kopfnickend auf die Seidenrobe, die er für mich aufhielt.
»Aus Eurem Schlafzimmer, vermute ich.« Er sah mich einen Moment stirnrunzelnd an, bevor er begriff, was ich meinte. »Oh. Mrs Figg hat ihn mitgebracht, als sie Feuer gemacht hat.«
»Oh«, sagte ich schwach. Die Vorstellung, dass mich Mrs Figg in Lord Johns Bett sah – wahrscheinlich im Tiefschlaf, zerwühlt und schnarchend, wenn nicht sogar sabbernd –, war mir furchtbar peinlich. Andererseits war ja die bloße Tatsache, dass ich in seinem Bett war, schon furchtbar peinlich, ganz gleich, wie ich ausgesehen hatte.
»Wir sind verheiratet«, sagte er mit einem leisen, gereizten Unterton.
»Äh … ja … aber …« Mir kam noch ein weiterer Gedanke; womöglich war dies ja gar nicht so ungewöhnlich für Mrs Figg, wie ich dachte – holte er sich hin und wieder andere Frauen ins Bett?
»Schlaft Ihr auch mit Frauen? Äh … ich meine nicht schlafen, sondern …«
Er war gerade dabei, seine Haare zu entwirren. Jetzt hielt er inne und starrte mich an.
»Nicht aus freien Stücken«, sagte er. Er hielt inne, dann legte er seinen Silberkamm beiseite. »Gibt es sonst noch etwas, was Ihr mich gern fragen würdet«, erkundigte er sich mit ausgesuchter Höflichkeit, »bevor ich den Schuhputzerjungen hereinbitte?«
Trotz des Feuers war es kühl im Zimmer, doch auf meinen Wangen brannte die Wärme. Ich zog den Morgenrock fester um mich.
»Da Ihr es anbietet … Ich weiß, dass Euch Brianna erzählt hat, was – was wir sind. Glaubt Ihr es?«
Eine Weile betrachtete er mich wortlos. Er verfügte nicht über Jamies Gabe, seine Gefühle zu verbergen, und ich konnte sehen, wie sein schwacher Ärger über meine vorletzte Frage in Belustigung überging. Er verneigte sich knapp.
»Nein«, sagte er, »doch ich gebe Euch mein Wort, dass ich mich selbstverständlich in jeder Hinsicht verhalten werde, als ob ich es täte.«
Ich starrte ihn an, bis mir bewusst wurde, dass mir der Mund offen stand. Ich klappte ihn zu.
»Das reicht vorerst«, sagte ich.
Die merkwürdige kleine Blase der Intimität, in der wir die vergangene halbe Stunde verbracht hatten, war geplatzt, und obwohl ich es gewesen war, die neugierige Fragen stellte, fühlte ich mich wie eine Schnecke, die sich plötzlich ihres Hauses beraubt sieht – nicht nur nackt, sondern gefährlich bloßgestellt an Leib und Seele. Durch und durch erschüttert, verabschiedete ich mich murmelnd und steuerte auf die Tür zu.
»Claire?«, sagte er mit fragender Stimme.
Ich blieb stehen, die Hand auf dem Türknauf, und fühlte mich sehr merkwürdig; er hatte mich noch nie bei meinem Namen gerufen. Es kostete mich einige Anstrengung, noch einmal zu ihm zurückzublicken, doch als ich es tat, sah ich, dass er lächelte.
»Denk an das Reh«, sagte er sanft. »Meine Liebe.«
Ich nickte wortlos und ergriff die Flucht. Erst später, als ich mich – heftig schrubbend – gewaschen und angezogen hatte sowie eine stärkende Tasse Tee mit Brandy getrunken hatte, wurde mir klar, was er mit seiner letzten Bemerkung gemeint hatte.
Sein Kommen ist ein Geschenk, hatte er über das weiße Reh gesagt, das ich voll Dankbarkeit annehme.
Ich atmete den duftenden Teedampf ein und beobachtete die winzigen Teeblättchen, die am Boden der Tasse dahintrieben. Zum ersten Mal seit Wochen fragte ich mich, was mir die Zukunft wohl bringen mochte.
»Das reicht vorerst«, flüsterte ich und leerte die Tasse, die Reste der Teeblätter kräftig und bitter auf meiner Zunge.
Kapitel 96
Glühwürmchen
Es war dunkel. Dunkler als überall, wo er sonst je gewesen war. Draußen war es nachts eigentlich nie richtig dunkel, selbst wenn der Himmel bewölkt war, aber hier war es dunkler als hinten in Mandys Kleiderschrank, wenn sie Verstecken spielten. Zwischen den Toren war eine Ritze, er konnte sie zwar mit den Fingern spüren, doch es drang kein Licht hindurch. Es musste immer noch Nacht sein. Vielleicht würde ja Licht durch die Ritze fallen, wenn es Morgen wurde.
Aber vielleicht würde Mr Cameron ja auch zurückkommen, wenn es Morgen wurde. Bei diesem Gedanken trat Jem ein Stückchen von der Tür zurück. Eigentlich glaubte er zwar nicht, dass ihm Mr Cameron etwas tun wollte – zumindest hatte er das gesagt –, aber vielleicht würde er ja versuchen, noch einmal mit ihm zu den Steinen zu fahren, und dort würde Jem nicht mehr hingehen, um keinen Preis.
Es tat weh, an die Steine zu denken. Zwar nicht so, wie es wehgetan hatte, als ihn Mr Cameron gegen den Stein geschubst hatte und der Stein … angefangen, aber es tat weh. Er hatte eine Schramme am Ellbogen, weil er sich gewehrt und sich dabei gestoßen hatte, und er rieb sich jetzt an der Stelle, weil das besser war, als an die Steine zu denken. Nein, sagte er sich, Mr Cameron würde ihm nichts tun, denn er hatte ihn ja aus dem Stein gezogen, als der versucht hatte … Er schluckte krampfhaft und versuchte, an etwas anderes zu denken.
Er glaubte, dass er vielleicht wusste, wo er war, weil er noch wusste, wie Mama Pa von dem Streich erzählt hatte, den ihr Mr Cameron gespielt hatte, als er sie im Tunnel eingesperrt hatte. Und sie hatte gesagt, wenn sich die Tore schlossen, hörten sich die Räder an, als würde jemand an einem Knochen nagen, und genauso hatte es sich angehört, als Mr Cameron ihn hier hineingeschubst und dann die Tore zugemacht hatte.
Er zitterte irgendwie. Es war kalt hier, obwohl er seine Jacke anhatte. Er zog die Nase hoch und versuchte zu riechen, was los war, so wie es Opa und Onkel Ian konnten. Er konnte Steine riechen – aber das waren einfach nur Steine, nicht … die Steine. Und Metall und Ölgeruch wie auf einer Tankstelle. Ein scharfer Geruch, vielleicht Elektrizität. In der Luft war noch etwas, das gar kein Geruch war, sondern wie ein Summen klang. Das war Strom, das erkannte er. Zwar nicht so wie in der großen Halle, die Mama ihm und Jimmy Glasscock gezeigt hatte, wo die Turbinen wohnten, aber so ähnlich. Also Maschinen. Es ging ihm schon ein bisschen besser. Maschinen waren seine Freunde.