Als er kurz darauf an der Schwelle eines Traums von einem zierlichen blonden Mädchen verharrte, das seine Frau war, dachte er verschlafen, aye, vielleicht ist er ja schon tot.
Rollo stieß einen tiefen, unwilligen Kehllaut aus und wälzte sich auf den Rücken, die Pfoten in der Luft.
Kapitel 14
Heikle Angelegenheiten
London
November 1776
Es hatte durchaus auch seine guten Seiten, wenn man älter wurde, dachte Lord John. Man wurde weiser, man sah die Dinge im rechten Licht, man hatte seinen Platz im Leben gefunden; man genoss das Gefühl, etwas vollbracht zu haben, seine Zeit sinnvoll genutzt zu haben, man hatte Freunde und Familie, denen man in tiefer Zuneigung verbunden war … und man brauchte nicht mehr mit dem Rücken zur Wand zu stehen, wenn man sich mit Lord George Germain unterhielt. Zwar versicherten ihm sowohl sein Spiegel als auch sein Kammerdiener, dass er nach wie vor präsentabel aussah, doch er war mindestens zwanzig Jahre zu alt für den Staatssekretär, der junge Männer mit zarter Haut bevorzugte.
Der Sekretär, der ihn hineingeführt hatte, entsprach genau dieser Beschreibung und war zudem mit langen dunklen Wimpern und einem sanften Schmollmund ausgestattet. Grey hatte nicht mehr als einen flüchtigen Blick für ihn übrig; sein eigener Geschmack ging in eine härtere Richtung.
Er hatte schon bis ein Uhr gewartet, da er Germains Gewohnheiten kannte, und doch waren diesem die Spuren einer langen Nacht noch deutlich anzusehen. Er hatte dunkelblaue Ringe unter seinen milchigen Augen, die Grey mit einem ausgesprochenen Mangel an Begeisterung betrachteten. Dennoch bemühte sich Germain um Höflichkeit. Er lud Grey ein, sich zu setzen, und schickte den rehäugigen Sekretär davon, um Brandy und Gebäck zu holen.
Grey trank tagsüber selten Hochprozentiges, und er wollte jetzt einen klaren Kopf haben. Daher nippte er kaum an seinem Brandy, obwohl dieser exzellent war. Germain dagegen steckte die berühmte Sackville-Nase – die ihm scharfkantig wie ein Brieföffner aus dem Gesicht ragte – in sein Glas und atmete tief ein, dann leerte er das Glas und schenkte sich ein neues ein. Die Flüssigkeit schien eine belebende Wirkung zu haben, denn nach dem zweiten Glas sah er schon glücklicher aus und erkundigte sich nach Greys Wohlbefinden.
»Mir geht es bestens, danke«, antwortete Grey höflich. »Ich bin vor Kurzem aus Amerika zurückgekehrt und habe Euch einige Briefe von gemeinsamen Bekannten mitgebracht.«
»Oh, wirklich?« Germains Miene hellte sich ein wenig auf. »Zu freundlich von Euch, Grey. Hattet Ihr eine gute Reise?«
»Sie war erträglich.« Eigentlich war es furchtbar gewesen; die Atlantiküberquerung war ein einziger Spießrutenlauf von einem Sturm zum nächsten gewesen. Tagelang waren sie ein Spielball der Wellen gewesen, bis Grey aus tiefster Seele gewünscht hatte, das Schiff würde sinken, damit dies alles ein Ende nahm. Doch er wollte keine Zeit mit belanglosem Geplauder verlieren.
»Kurz vor meiner Abreise aus der Kolonie North Carolina hatte ich eine bemerkenswerte Begegnung«, berichtete er, da er inzwischen den Eindruck hatte, dass Germain wach genug war, um ihm zuzuhören. »Gestattet mir, Euch davon zu erzählen.«
Germain war sowohl eitel als auch engstirnig, und er beherrschte die politische Kunst der vagen Ausdrucksweise in Vollendung – doch er konnte sich auch ernstlich mit einer Angelegenheit befassen, wenn er wollte, was meistens dann der Fall war, wenn er einen persönlichen Vorteil witterte. Die Erwähnung des Nordwestlichen Territoriums half seiner Konzentrationsfähigkeit bewundernswert auf die Sprünge.
»Weiter habt Ihr Euch nicht mit diesem Beauchamp unterhalten?« Germains dritter Brandy stand halb getrunken vor ihm.
»Nein. Er hatte mir ja seine Nachricht überbracht; jede weitere Unterhaltung hätte zu nichts geführt, da er eindeutig keinerlei Handlungsbefugnis besaß. Und wenn er vorgehabt hätte, mir die Identität seiner Auftraggeber zu enthüllen, hätte er dies gewiss getan.«
Germain ergriff sein Glas, trank aber nicht, sondern drehte es stattdessen in der Hand, um besser nachdenken zu können. Es war ein glattes Glas ohne Facettenschliff, und es war mit Germains Fingerabdrücken und den Spuren seines Mundes verschmiert.
»Ist Euch der Mann bekannt? Warum ist er denn ausgerechnet zu Euch gekommen?« Nein, dumm ist er nicht, dachte Grey.
»Ich war ihm Jahre zuvor einmal begegnet«, erwiderte er gleichmütig. »Im Zuge meiner Zusammenarbeit mit Oberst Bowles.«
Nichts in der Welt hätte Grey dazu gebracht, Percys wahre Identität preiszugeben; Percy war sein und Hals Stiefbruder gewesen – nun, er war es immer noch –, und nur die Gunst des Schicksals und Greys Entschlossenheit hatten zum Zeitpunkt seines vermeintlichen Todes einen gewaltigen Skandal verhindert. Manche Skandale gerieten mit der Zeit in Vergessenheit – bei diesem wäre es anders gewesen.
Germains gezupfte Augenbraue zuckte beim Klang des Namens Bowles – eines Mannes, der jahrelang Englands Schwarzes Kabinett geleitet hatte.
»Ein Spion?« In seiner Stimme klang ein Hauch von Ekel mit; Spione waren eine vulgäre Notwendigkeit, die kein Mann von Welt mit bloßen Fingern angerührt hätte.
»Früher einmal vielleicht. Anscheinend hat er Karriere gemacht.« Auch er nahm sein Glas, trank einen ordentlichen Schluck – es war schließlich sehr guter Brandy –, dann stellte er es hin und erhob sich zum Gehen. Er war nicht so einfältig, Germain zu bedrängen. Besser, die Angelegenheit in den Händen des Staatssekretärs zu belassen und darauf zu bauen, dass er ihr aus persönlichem Interesse nachgehen würde.
Grey ließ Germain in seinen Sessel gelehnt zurück, den Blick nachdenklich in sein leeres Glas gerichtet. Der Sekretär mit dem Schmollmund reichte ihm seinen Umhang und streifte ihn flüchtig mit der Hand.
Nicht, so dachte er, während er sich fester in den Umhang hüllte und sich zum Schutz vor dem zunehmenden Wind den Hut in die Stirn zog, dass er vorhatte, die Angelegenheit allein Germains kapriziösem Verantwortungsgefühl zu überlassen. Germain war zwar der verantwortliche Staatssekretär für Amerika – doch dies war keine Angelegenheit, die nur Amerika betraf. Es gab noch zwei weitere Staatssekretäre in Lord Norths Kabinett: einen für das Nördliche Department, das das protestantische Nordeuropa umfasste, und einen weiteren für das Südliche Department, das aus dem Rest der Welt bestand – darunter das katholische Europa und damit Frankreich. Am liebsten hätte er überhaupt nichts mit Lord Germain zu tun gehabt. Doch die Spielregeln der Diplomatie verhinderten, dass er direkt auf Lord North zuging, was sein erster Impuls gewesen war. Er würde Germain einen Tag Vorsprung lassen und dann dem für den Süden – und für Frankreich – verantwortlichen Staatssekretär Thomas Thynne, Vicomte Weymouth, von den Vorschlägen des schlangenzüngigen Mr Beauchamp berichten.
Wenn sich beide Männer entschlossen, der Sache nachzugehen, würde dies zweifellos auch Lord North zu Ohren kommen – und North oder einer seiner Minister würde auf Grey zukommen.
Über der Themse rollte ein Sturm heran, er konnte sehen, wie sich brodelnde schwarze Wolken auftürmten, als wollten sie ihre Wut direkt über den Parlamentsgebäuden entladen.
»Etwas Blitz und Donner würde ihnen gar nicht schaden«, murmelte er missmutig und winkte eine Droschke herbei, da gerade die ersten dicken Tropfen fielen.
Als er den Beefsteak-Club erreichte, regnete es in Strömen, und die drei Schritte vom Bordstein bis zum Eingang reichten aus, um ihn fast vollständig zu durchnässen.
Mr Bodley, der betagte Steward, empfing ihn, als sei er erst gestern das letzte Mal da gewesen und nicht vor über achtzehn Monaten.
»Schildkrötensuppe mit Sherry heute Abend, Mylord«, unterrichtete er Grey und winkte einem Dienstboten, Grey den nassen Hut und Umhang abzunehmen. »Das wärmt den Magen. Und danach ein schönes Lammkotelett mit neuen Kartoffeln?«