»Der Künstler ist leider nicht bekannt«, sagte er entschuldigend, doch Norrington winkte ab, ohne den Blick von seinem neuen Schatz abzuwenden. Schließlich seufzte er glücklich und steckte die Schnitzerei in die Innentasche seines Rocks.
»Danke, Mylord«, sagte er. »Was den Gegenstand Eurer Frage betrifft, so fürchte ich, dass uns leider nur sehr wenig Material bezüglich Eures mysteriösen Mr Beauchamp zur Verfügung steht.« Er wies kopfnickend auf den Schreibtisch, auf dem eine mitgenommene, anonyme Ledermappe ruhte. Grey konnte sehen, dass sich darin etwas Unförmiges befand – kein Papier; die Mappe war durchbohrt, und ein Zwirnfaden lief durch das Loch und hielt den Gegenstand an Ort und Stelle fest.
»Ihr überrascht, mich, Mr Norrington«, sagte er höflich und griff nach der Mappe. »Aber lasst mich sehen, was Ihr habt, und vielleicht …«
Norrington presste die Finger flach auf die Mappe und runzelte kurz die Stirn, als wollte er Grey verdeutlichen, dass Staatsgeheimnisse nicht einfach jedem offenstanden. Grey lächelte ihn an.
»Schluss damit, Arthur«, sagte er. »Wenn Ihr wissen wollt, was ich über unseren mysteriösen Mr Beauchamp weiß, werdet Ihr mir jedes Wort zeigen, das Ihr über ihn habt.«
Norrington entspannte sich ein wenig und zog seine Finger zurück – auch wenn er sich immer noch zierte. Mit hochgezogener Augenbraue ergriff Grey die Ledermappe und öffnete sie. Der Gegenstand entpuppte sich als kleiner Stoffbeutel; darüber hinaus gab es nur ein paar Bogen Papier. Grey seufzte.
»Schlechte Buchführung, Arthur«, sagte er tadelnd. »Es gibt ganze Papierberge über Beauchamp – und Querverweise auf seinen Namen. Natürlich ist er jahrelang inaktiv gewesen, aber irgendjemand hätte wirklich genauer nachsehen sollen.«
»Das genau haben wir getan«, sagte Norrington mit einem merkwürdigen Unterton, der Grey scharf aufblicken ließ. »Der alte Crabbot konnte sich an den Namen erinnern, und wir haben gründlich nachgesehen. Die Akten sind verschwunden.«
Die Haut auf Greys Rücken zog sich zusammen, als hätte man ihm einen Peitschenhieb versetzt.
»Das ist merkwürdig«, sagte er ruhig. »Nun denn …« Er beugte den Kopf über die Mappe, obwohl er einen Moment brauchte, um seine rasenden Gedanken so weit zu zügeln, dass er sehen konnte, worauf sein Blick fiel. Kaum richtete sich dieser konzentriert auf die Seite, als ihm der Name »Fraser« entgegensprang und ihm fast das Herz stehen geblieben wäre.
Allerdings nicht Jamie Fraser. Langsam atmend blätterte er um, las die nächste Seite, blätterte zurück. Insgesamt waren es vier Briefe, von denen jedoch nur einer vollständig dechiffriert war. Mit einem zweiten hatte man nur begonnen; er war mit ersten Randnotizen versehen. Grey presste die Lippen zusammen; das Dechiffrieren von Briefen war zwar seinerzeit seine Spezialität gewesen, doch er war den Schlachtfeldern schon viel zu lange fern, um darüber im Bilde zu sein, welche Begriffe die Franzosen gegenwärtig benutzten, ganz zu schweigen von den charakteristischen Formulierungen, die einzelne Spione benutzen mochten – und diese Briefe entstammten mindestens zwei verschiedenen Händen, so viel war klar.
»Ich habe sie geprüft«, sagte Norrington, und als Grey aufblickte, merkte er, dass ihn Arthur mit seinen vorquellenden grünen Augen fixierte wie eine Kröte, die eine saftige Fliege beäugt. »Offiziell habe ich sie noch nicht dechiffriert, aber ich habe eine hinlängliche Vorstellung davon, was darin steht.«
Nun, er hatte ja bereits beschlossen, dass es sein musste, und wenn er es jemandem sagen konnte, dann Arthur, welcher der diskreteste seiner alten Kontakte zum Schwarzen Kabinett war.
»Es handelt sich bei Beauchamp um einen gewissen Percival Wainwright«, sagte er unverblümt – und fragte sich gleichzeitig, warum er Percivals wirklichen Namen auch jetzt noch geheim hielt. »Er ist britischer Untertan – ein ehemaliger Armeeoffizier, der wegen Sodomie verhaftet, aber nie vor Gericht gestellt wurde. Man glaubte, er sei vor dem Prozess in Newgate gestorben, aber« – er strich die Briefe glatt und schloss die Mappe über ihnen – »offensichtlich nicht.«
Arthurs füllige Lippen rundeten sich zu einem tonlosen »Oh«.
Einen Moment lang fragte sich Grey, ob er es dabei belassen sollte – doch nein. Arthur war so hartnäckig wie ein Dackel, der sich in einen Dachsbau grub, und wenn er den Rest selbst herausfand, würde er Grey nur verdächtigen, noch mehr zu verheimlichen.
»Außerdem ist er mein Stiefbruder«, sagte Grey so beiläufig wie möglich und legte die Mappe auf Arthurs Schreibtisch. »Ich bin ihm in North Carolina begegnet.«
Arthur öffnete kurz den Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder und blinzelte.
»Ich verstehe«, sagte er. »Nun, also … ich verstehe.«
»Ja, das tut Ihr«, bestätigte Grey trocken. »Ihr versteht haargenau, warum ich den Inhalt dieser Briefe erfahren muss« – er wies kopfnickend auf die Mappe –, »und zwar so schnell wie möglich.«
Arthur nickte, presste die Lippen zusammen, machte es sich bequem und nahm die Briefe in die Hand. Wenn er einmal zum Ernst entschlossen war, hatte er nichts Komisches mehr an sich.
»Der Großteil dessen, was ich dechiffrieren konnte, schien sich mit Frachtangelegenheiten zu befassen«, sagte er. »Kontaktpersonen auf den Westindischen Inseln, Frachtgüter – schlichte Schmuggelei, wenn auch im großen Stil. Einmal wird ein Bankier in Edinburgh erwähnt; ich konnte nicht genau ausmachen, welche Rolle er dabei spielt. Doch drei der Briefe haben ein und denselben Namen en clair erwähnt – das habt Ihr natürlich gesehen.«
Grey versuchte erst gar nicht, es zu leugnen.
»Irgendjemand in Frankreich will unbedingt einen Mann namens Claudel Fraser finden«, sagte Arthur und zog die Augenbraue hoch. »Könnt Ihr Euch vorstellen, wer das ist?«
»Nein«, sagte Grey, selbst wenn er durchaus den Hauch einer Ahnung verspürte. »Wer es ist, der ihn finden will – oder warum?«
Norrington schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung, warum«, sagte er unverblümt. »Wer hingegen – ich glaube, es könnte ein französischer Adeliger sein.« Noch einmal schlug er die Mappe auf und holte vorsichtig zwei Wachssiegel aus dem kleinen Beutel, der daran befestigt war. Eines war fast in zwei Hälften gespalten, das andere weitgehend intakt. Beide zeigten einen Singvogel vor einer aufgehenden Sonne.
»Ich habe noch niemanden gefunden, der es erkannt hat«, sagte Norrington und drückte leicht mit seinem rundlichen Zeigefinger auf eines der Siegel. »Erkennt Ihr es vielleicht?«
»Nein«, sagte Grey, dem plötzlich die Kehle trocken wurde. »Aber Ihr solltet Euch nach einem gewissen Baron Amandine umhören. Wainwright hat diesen Namen erwähnt als … persönlichen Bekannten.«
»Amandine?« Norringtons Miene war verwundert. »Nie gehört.«
»Und auch sonst niemand.« Grey seufzte und erhob sich. »Ich beginne, mich zu fragen, ob er tatsächlich existiert.«
Er fragte sich das immer noch, als er längst zu Hal unterwegs war. Möglich, dass der Baron Amandine existierte, möglicherweise aber auch nicht; falls ja, war er vielleicht nur die Fassade, hinter der sich die Interessen einer sehr viel prominenteren Person verbargen. Falls nicht, wurde die Angelegenheit dadurch zwar noch verwirrender, aber gleichzeitig leichter zu verfolgen, denn wenn es unmöglich war, herauszufinden, wer hinter alldem steckte, war Percy Wainwright die einzig mögliche Spur.
Keiner von Norringtons Briefen hatte das Nordwestliche Territorium erwähnt oder den geringsten Hinweis auf das Ansinnen enthalten, mit dem ihn Percy konfrontiert hatte. Was allerdings nicht überraschend war; es wäre extrem gefährlich gewesen, derartige Dinge dem Papier anzuvertrauen, selbst wenn es nicht das erste Mal gewesen wäre, dass er erlebte, dass ein Spion so etwas tat. Falls Amandine existierte und direkt mit der Sache zu tun hatte, so war er offenbar sowohl vernünftig als auch vorsichtig.