In der Tat, dachte er – das Einzige, was für sie sprach, war das Gefühl der Trostlosigkeit, das der bloße Gedanke an Williams möglichen Tod auch in ihm auslöste. Ja, er konnte umkommen. Jeder konnte in Kriegszeiten umkommen, erst recht ein Soldat. Es war eines der Risiken, die man einging – und er hätte William niemals guten Gewissens davon abhalten können, es einzugehen, selbst wenn die Vorstellung, dass William durch Kanonenfeuer in Stücke gerissen oder in den Kopf geschossen wurde oder qualvoll an einer Seuche starb …
Er schluckte mit trockenem Mund und drängte diese katastrophalen Bilder entschlossen zurück in jenen Teil seines Kopfes, in dem er sie normalerweise hinter Schloss und Riegel hielt.
Er holte tief Luft.
»Dorothea«, sagte er bestimmt. »Ich werde herausfinden, was ihr im Schilde führt.«
Sie betrachtete ihn einen Moment nachdenklich, als wägte sie ab, wie wahrscheinlich das war. Ihr rechter Mundwinkel hob sich unbewusst, und sie kniff erneut die Augen zusammen. Die Reaktion in ihrem Gesicht erkannte er so deutlich, als ob sie es laut ausgesprochen hätte.
Nein. Das glaube ich nicht.
Doch dieses Mienenspiel war nicht mehr als ein flüchtiges Aufflackern, dann nahm ihr Gesicht seinen Ausdruck der Empörung – vermischt mit Flehen – wieder an.
»Onkel John! Wie kannst du mich und William – deinen eigenen Sohn! – beschuldigen … Was wirfst du uns überhaupt vor?«
»Ich weiß es nicht«, räumte er ein.
»Also! Wirst du für uns mit Papa sprechen? Für mich? Bitte? Heute noch?«
Dottie war die geborene Circe; während sie sprach, beugte sie sich zu ihm herüber, sodass er den Veilchenduft in ihrem Haar riechen konnte, und verknotete ihre Finger bezaubernd in seinem Revers.
»Es geht nicht«, sagte er und versuchte, sich ihr zu entziehen. »Nicht sofort. Ich habe ihm heute schon einen Schrecken eingejagt; noch einer könnte ihm den Rest geben.«
»Dann aber morgen«, drängte sie.
»Dottie.« Er ergriff ihre Hände und stellte gerührt fest, dass sie kalt waren und zitterten. Sie meinte es ernst – zumindest meinte sie irgendetwas ernst.
»Dottie«, wiederholte er, diesmal sanfter. »Selbst wenn dein Vater bereit wäre, dich nach Amerika zu schicken, um zu heiraten – und dazu müsstest du, glaube ich, schon ein Kind erwarten –, ist es bis April nicht möglich zu fahren. Es gibt also keinen Grund, Hal vorzeitig ins Grab zu bringen, indem wir ihm all das erzählen, zumindest nicht, solange er sich nicht von seiner derzeitigen Unpässlichkeit erholt hat.«
Sie war nicht erfreut, musste aber zugeben, dass sein Argument stichhaltig war.
»Außerdem«, fügte er hinzu und ließ ihre Hände los, »wird jeder Feldzug im Winter eingestellt; das weißt du. Die Kampfhandlungen werden bald enden, und William wird erst einmal außer Gefahr sein. Du brauchst seinetwegen keine Angst zu haben.« Höchstens vor Unfällen, Seuchen, Blutvergiftungen, Darmkrämpfen, Wirtshausraufereien und zehn oder fünfzehn anderen lebensbedrohlichen Möglichkeiten, fügte er insgeheim hinzu.
»Aber …«, begann sie, hielt dann aber jedoch inne und seufzte. »Ja, wahrscheinlich hast du recht. Aber … du wirst doch bald mit Papa sprechen, nicht wahr, Onkel John?«
Er seufzte seinerseits, lächelte sie aber dennoch an.
»Ja, wenn das wirklich dein Wunsch ist.« Ein Windstoß traf die Kapelle, und das bleiverglaste Barbarafenster bebte in seinem Rahmen. Ein plötzlicher Regenguss prasselte auf die Dachschindeln, und Grey zog seinen Umhang um sich.
»Bleib hier«, wies er seine Nichte an. »Ich hole die Kutsche.«
Während er gegen den Wind ankämpfte, eine Hand an seinem Hut, um ihn am Davonfliegen zu hindern, erinnerte er sich noch einmal beklommen an seine eigenen Worte: Dazu müsstest du, glaube ich, schon ein Kind erwarten.
Das konnte sie doch nicht. Oder? Nein, beruhigte er sich selbst. Sich von jemandem schwängern lassen, um ihren Vater dazu zu bringen, ihr die Heirat mit einem anderen zu erlauben? Wohl kaum; Hal würde sie auf der Stelle mit dem Schuldigen verheiraten. Es sei denn, sie suchte sich einen unmöglichen Kandidaten dafür aus – zum Beispiel einen verheirateten Mann oder …
Das war ja alles Unsinn! Was würde William sagen, wenn sie schwanger von einem anderen in Amerika ankäme?
Nein. Nicht einmal Brianna Fraser MacKenzie – die Frau mit dem haarsträubendsten Pragmatismus, der ihm je untergekommen war – hätte so etwas getan. Er lächelte bei der Erinnerung daran, wie die formidable Mrs MacKenzie versucht hatte, ihn durch Erpressung zu einer Heirat zu zwingen – während sie schwanger war, und das definitiv nicht von ihm. Er hatte sich von Anfang an gefragt, ob das Kind eigentlich von ihrem Mann war. Sie würde so etwas möglicherweise tun. Aber nicht Dottie.
Mit Sicherheit nicht.
Kapitel 16
In der Halle des Bergkönigs
Inverness, Schottland
Oktober 1980
Die Old High Church of St. Stephen’s stand friedlich am Ufer des Ness, die verwitterten Steine auf ihrem Kirchhof das Zeugnis von Rechtschaffenheit und Ruhe. Roger nahm diesen Frieden zwar wahr – doch ihm selbst war er nicht vergönnt.
Das Blut hämmerte in seinen Schläfen, und sein Hemdkragen war von der Anstrengung feucht geworden, obwohl der Tag kühl war. Er war vom Parkplatz an der High Street aus zu Fuß gegangen, und zwar in einem solchen Tempo, dass es ihm so vorkam, als hätte der Weg nur Sekunden gedauert.
Sie hatte ihn einen Feigling genannt, bei Gott. Sie hatte ihn auch noch mit diversen anderen Bezeichnungen bedacht, aber das war diejenige, die saß – und das wusste sie genau.
Der Streit hatte am Vortag nach dem Abendessen begonnen, als sie einen verkrusteten Topf in die alte Steinspüle gestellt hatte, sich zu ihm umgedreht hatte, tief Luft geholt und ihm mitgeteilt hatte, dass sie ein Vorstellungsgespräch bei North of Scotland Hydro-Electric hatte.
»Vorstellungsgespräch?«, hatte er verständnislos gesagt.
»Vorstellungsgespräch«, hatte sie wiederholt und die Augen zusammengekniffen.
Er war so geistesgegenwärtig gewesen, sich das »Aber du hast doch schon genug zu tun« zu verkneifen, das ihm schon auf der Zunge lag, und stattdessen nur extrem gelassen – wie er fand – »Warum?« gefragt.
Da sie noch nie viel von stiller Diplomatie gehalten hatte, hatte sie ihn mit ihrem Blick fixiert und gesagt: »Weil einer von uns arbeiten muss, und wenn du es nicht bist, muss ich es eben sein.«
»Was meinst du damit, ›arbeiten muss‹«, hatte er gefragt – verdammt, sie hatte recht, er war ein Feigling, weil er verdammt gut wusste, was sie damit meinte. »Wir haben doch vorerst genug Geld.«
»Vorerst«, stimmte sie ihm zu. »Ein oder zwei Jahre – vielleicht länger, wenn wir aufpassen. Und du meinst, wir sollten einfach auf unseren Hintern sitzen, bis uns das Geld ausgeht, und dann? Dann fängst du an, dir Gedanken darüber zu machen, was du tun solltest?«
»Ich mache mir Gedanken«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Das stimmte; seit Monaten tat er kaum etwas anderes. Da war natürlich das Buch; er war dabei, die Lieder aufzuschreiben, die er im achtzehnten Jahrhundert auswendig gelernt hatte – aber das konnte man kaum als ernsthafte Arbeit bezeichnen. Eher als Denksport.
»Ach ja? Ich ebenfalls.« Sie kehrte ihm den Rücken zu und drehte das Wasser auf, vielleicht, um ihm das Wort abzuschneiden, vielleicht auch, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Das Wasser hörte auf zu laufen, und sie drehte sich wieder um.
»Hör zu«, sagte sie, um einen Tonfall der Vernunft bemüht. »Ich kann nicht viel länger warten. Ich kann nicht jahrelang den Anschluss verlieren und dann wieder anmarschiert kommen. Mein letztes Projekt ist sechs Monate her – ich kann nicht länger warten.«