»Du hast nie etwas davon gesagt, dass du wieder ganztags arbeiten willst.« Sie hatte in Boston einige kleinere Aufträge übernommen – befristete Projekte als Beraterin, nach Mandys Entlassung aus dem Krankenhaus. Joe Abernathy hatte sie ihr besorgt.
»Hör zu, Mann«, hatte Joe unter vier Augen zu Roger gesagt. »Sie hat Hummeln im Hintern. Ich kenne die Kleine; sie braucht Bewegung. Ihre Gedanken haben sich Tag und Nacht nur um das Baby gedreht, wahrscheinlich schon seit der Geburt, und sie ist jetzt wochenlang mit Ärzten und anhänglichen Kindern eingesperrt gewesen. Sie braucht frische Luft.«
Ich etwa nicht?, hatte Roger gedacht – doch das konnte er natürlich nicht laut sagen.
Ein älterer Mann mit einer Schiebermütze jätete das Unkraut vor einem der Grabsteine, und neben ihm lag ein großer Haufen entwurzelter Pflanzen. Er hatte Roger beobachtet, als dieser an der Mauer zögerte, und nickte ihm jetzt freundlich zu, schwieg aber.
Sie war eine Mutter, hätte er gern gesagt. Hätte gern etwas über die enge Bindung zwischen ihr und den Kindern gesagt; darüber, dass sie sie brauchten wie Luft, Nahrung und Wasser. Hin und wieder war er sogar eifersüchtig, weil ihn niemand auf diese grundlegende Weise brauchte; wie konnte sie sich diesem Geschenk verweigern?
Nun, er hatte einmal versucht, dies anzudeuten. Das Ergebnis hatte dem geähnelt, was zu erwarten war, wenn man in einer mit Gas gefüllten Mine ein Streichholz entzündete.
Er wandte sich abrupt ab und verließ den Kirchhof. Er konnte jetzt nicht mit dem Rektor sprechen – konnte jetzt eigentlich gar nicht sprechen; er musste sich erst beruhigen und seine Stimme wiederfinden.
Er wandte sich nach links und ging die Huntly Street entlang. Aus dem Augenwinkel sah er am anderen Ufer die Fassade von St. Mary’s, der einzigen katholischen Kirche in Inverness.
Zu Beginn des Streits, als es noch rationaler zuging, hatte sie es versucht. Gefragt, ob es ihre Schuld war.
»Liegt es an mir?«, hatte sie ernst gefragt. »Ich meine, weil ich katholisch bin? Ich weiß – ich weiß, dass dadurch alles komplizierter wird.« Ihre Lippen zuckten. »Jem hat mir von Mrs Ogilvie erzählt.«
Ihm war nicht zum Lachen gewesen, doch er konnte sich bei diesem Gedanken ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Er hatte draußen an der Scheune kompostierten Dung in eine Schubkarre geschaufelt, um ihn im Gemüsegarten zu verteilen. Jem hatte ihm mit seiner Kinderschaufel geholfen.
»Sechzehn Tonnen, und was ist der Preis?«, hatte Roger gesungen – wenn man das heisere Krächzen, das er hervorbrachte, denn so nennen konnte.
»Du wirst immer älter und sitzt tiefer im Scheiß!«, trötete Jem, der sich alle Mühe gab, wie ein Countrysänger zu klingen, dann aber in hilfloses Gekicher ausbrach.
In diesem unpassenden Moment hatte er sich umgedreht und festgestellt, dass sie Besuch hatten: Mrs Ogilvie und Mrs MacNeil, die Säulen des Damenkränzchens der Free North Church von Inverness. Er kannte sie – und er wusste sehr genau, was sie hier wollten.
»Wir sind hier, um Ihre werte Ehefrau zu besuchen, Mr MacKenzie«, sagte Mrs MacNeil und lächelte mit geschlossenen Lippen. Er war sich nicht sicher, ob sie mit dieser Miene ihre persönlichen Bedenken zum Ausdruck bringen wollte oder ob sie einfach nur Angst hatte, ihre schlecht sitzenden falschen Zähne könnten herausfallen, wenn sie den Mund mehr als einen halben Zentimeter öffnete.
»Ah. Sie ist leider gerade im Ort.« Er hatte sich die Hand an seiner Jeans abgewischt, dachte kurz daran, sie ihr entgegenzuhalten, warf dann aber einen Blick darauf, überlegte es sich anders und nickte den Damen stattdessen zu. »Aber kommen Sie doch herein. Soll ich unsere Hilfe bitten, uns Tee zu machen?«
Sie schüttelten gleichzeitig die Köpfe.
»Wir haben Ihre Frau noch nicht in der Kirche gesehen, Mr MacKenzie.« Mrs Ogilvie musterte ihn argwöhnisch.
Nun, er war darauf gefasst gewesen. Er konnte zwar etwas Zeit schinden, indem er sagte, tja, das Baby war krank – aber das hätte zu nichts geführt; irgendwann mussten sie in den sauren Apfel beißen.
»Nein«, sagte er freundlich, zog dabei aber reflexiv die Schultern hoch. »Sie ist katholisch. Sie geht sonntags in St. Mary’s in die Kirche.«
Mrs Ogilvies Quadratgesicht fiel zu einem erstaunten Oval auseinander.
»Ihre Frau ist Papistin?«, sagte sie, wohl um ihm die Gelegenheit zu geben, die Verrücktheit zu korrigieren, die er gerade gesagt hatte.
»Das ist sie, aye. Von Geburt an.« Er zuckte schwach mit den Achseln.
Nach dieser Enthüllung war das Gespräch schnell versandet. Ein Blick in Jems Richtung, eine scharfe Frage, ob er zur Sonntagsschule ging, ein zischendes Luftholen bei der Antwort und ein finsterer Blick in Rogers Gesicht, bevor sie sich verabschiedeten.
Möchtest du, dass ich konvertiere?, hatte Brianna im Lauf des Streits fordernd gefragt. Hatte es gefordert, nicht angeboten.
Plötzlich hätte er sie brennend gern genau darum gebeten – nur um zu sehen, ob sie es aus Liebe zu ihm tun würde. Doch das hätte sein religiöses Gewissen niemals zugelassen – und sein liebendes Gewissen noch viel weniger. Sein Gewissen als ihr Ehemann.
Die Huntly Street bog abrupt in die Bank Street ein, und die Fußgänger der Einkaufsstraße verschwanden. Er kam an dem kleinen Gärtchen vorbei, das man zum Gedenken an die Krankenschwestern im Zweiten Weltkrieg angelegt hatte, und dachte – wie jedes Mal – an Claire, wenn auch diesmal nicht mit der üblichen Bewunderung.
Was würdest du wohl sagen?, dachte er. Er wusste verdammt gut, was sie sagen würde – oder zumindest, auf wessen Seite sie in dieser Frage stehen würde. Sie hatte sich schließlich nicht damit begnügt, Vollzeitmutter zu sein, nicht wahr? Sie hatte ihre medizinische Ausbildung begonnen, als Brianna sieben war. Und Frank Randall, Briannas Vater, war in die Bresche gesprungen, ob er wollte oder nicht. Nachdenklich verlangsamte er kurz seine Schritte. Dann war es ja kein Wunder, wenn Brianna dachte …
Er kam an der Free North Church vorbei und lächelte kurz, weil er an Mrs Ogilvie und Mrs MacNeil dachte. Er wusste, dass sie wiederkommen würden, wenn er nichts unternahm. Er kannte ihre Art von entschlossener Güte. Lieber Himmel, wenn ihnen zu Ohren kam, dass Brianna angefangen hatte zu arbeiten und ihn – so wie sie es sahen – mit zwei kleinen Kindern im Stich gelassen hatte, würden sie ihn im Akkord mit Pastetchen und anderen Köstlichkeiten versorgen. Das wäre gar nicht so schlecht, dachte er und leckte sich sinnend die Lippen – nur würden sie dann auch bleiben, um ihre Nasen hinter die Kulissen seines Haushalts zu stecken. Und sie in seine Küche zu lassen, wäre nicht nur ein Spiel mit dem Feuer gewesen, sondern so, als schleuderte er vorsätzlich eine Flasche Nitroglyzerin mitten in seine Ehe.
»Katholiken glauben nicht an Scheidung«, hatte Brianna ihn einmal wissen lassen. »An Mord allerdings eher. Schließlich kann man alles beichten.«
Ihm gegenüber stand die einzige anglikanische Kirche in Inverness, St. Andrew’s. Eine katholische Kirche, eine anglikanische Kirche – und nicht weniger als sechs presbyterianische Kirchen, die alle in gegenseitiger Sichtweite am Fluss angeordnet waren. Das sagte einem alles, was man über den grundlegenden Charakter von Inverness wissen musste. Und er hatte es Brianna gesagt – wenn auch zugegebenermaßen, ohne seine eigene Glaubenskrise zu erwähnen.
Sie hatte ihn nie darauf angesprochen. Das musste er ihr lassen. Er hatte in North Carolina dicht vor seiner Ordination gestanden – und in der dramatischen Zeit nach dieser Unterbrechung, die gefolgt wurde von Mandys Geburt, dem beginnenden Zerfall von Fraser’s Ridge und dem Entschluss, die Passage durch die Steine zu riskieren, war es nicht mehr zur Sprache gekommen. Und nach ihrer Rückkehr hatten sie angesichts der unmittelbaren Notwendigkeit, sich um Mandys Herz zu kümmern und dann zu einer Art von Alltag zu finden, die Frage nach seiner Priesterweihe ignoriert.