Ihm quollen die Augen aus dem Kopf, und er nahm die Farbe der Kehllappen eines Truthahns zur Paarungszeit an.
»Das – Sie – das ist –« Mit sichtlicher Anstrengung beherrschte er sich so weit, dass er einen höflichen Tonfall wahrte, obwohl ihm der Schock in das kantige Gesicht geschrieben war.
»Mrs MacKenzie. Die Idee der Emanzipation ist mir nicht fremd, aye? Ich habe selbst Töchter.« Und keine von ihnen hätte je so etwas zu mir gesagt, drückte seine hochgezogene Augenbraue aus. »Es ist ja nicht so, dass ich Sie für inkompetent halte –« Er betrachtete die offene Mappe, zog beide Augenbrauen hoch und schlug den Ordner entschlossen zu. »Es ist die – Umgebung, in der Sie arbeiten müssten. Sie würde sich nicht für eine Frau eignen.«
»Warum denn nicht?«
Allmählich fand er seine Souveränität wieder.
»Es ist oft körperlich sehr anstrengend – und um ehrlich zu sein, Mrs MacKenzie, die Männer, mit denen Sie zusammenarbeiten müssten, sind nicht sehr feinfühlig. Die Firma kann wahrhaftig nicht guten Gewissens Ihre Sicherheit aufs Spiel setzen, von gutem Geschäftsgebaren ganz zu schweigen.«
»Sie beschäftigen Männer, die einer Frau etwas antun würden?«
»Nein! Wir –«
»Sie haben Kraftwerke, von denen eine Gefahr für Leib und Leben ausgeht? Dann brauchen Sie ja unbedingt eine Betriebsaufsicht, nicht wahr?«
»Die gesetzlichen Hürden –«
»Ich bin mit den Richtlinien für den Kraftwerksbetrieb bestens vertraut«, sagte sie bestimmt, griff in ihre Tasche und holte die – sichtlich gelesene – Druckausgabe des offiziellen Regelwerks hervor. »Ich kann Probleme erkennen – und ich kann Ihnen sagen, wie Sie sie so schnell und so wirtschaftlich wie möglich beheben können.«
Mr Campbells Miene war zutiefst unglücklich.
»Und wie ich höre, haben Sie nicht gerade eine Flut von Bewerbern für diese Stelle«, schloss sie. »Nicht einen, um genau zu sein.«
»Die Männer …«
»Männer?«, sagte sie und ließ einen winzigen Hauch von Belustigung in diesem Wort mitschwingen. »Ich arbeite nicht zum ersten Mal mit Männern. Ich komme gut mit ihnen zurecht.«
Sie sah ihn an, ohne etwas zu sagen. Ich weiß, wie es ist, einen Mann zu töten, dachte sie. Ich weiß genau, wie einfach das ist. Und Sie nicht. Ihr war nicht bewusst, dass sich ihre Miene verändert hatte, doch Campbell verlor ein wenig von seiner Röte und wandte den Blick ab. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, ob Roger wohl auch den Blick abwenden würde, wenn er dieses Wissen in ihren Augen sah. Doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um über so etwas nachzudenken.
»Warum zeigen Sie mir nicht eines der Werke?«, schlug sie liebenswürdig vor. »Danach können wir ja weiterreden.«
Im achtzehnten Jahrhundert hatte St. Stephen’s vorübergehend als Gefängnis für festgenommene Jakobiten gedient. Es gab Berichte, nach denen man zwei von ihnen auf dem Kirchhof hingerichtet hatte. Es war nicht das Schlimmste, was man sich als letzten Anblick denken konnte, dachte er; der breite Fluss und der endlose Himmel, die sich beide zum Meer ergossen. Sie hatten etwas Beständiges, Friedliches an sich, Wind, Wolken und Wasser, obwohl sie unablässig in Bewegung waren.
Wenn du dich je inmitten eines Paradoxons wiederfindest, kannst du dir sicher sein, dass du an der Schwelle zur Wahrheit stehst, hatte sein Adoptivvater einmal zu ihm gesagt. Möglich, dass du nicht weißt, wie sie aussieht, hatte er lächelnd hinzugefügt. Aber sie ist da.
Der Rektor, Dr. Weatherspoon, hatte ebenfalls diverse Aphorismen auf Lager.
»Wenn Gott eine Tür zuschlägt, öffnet er ein Fenster.« Klar. Das Problem war, dass dieses Fenster im zehnten Stock lag und er nicht sicher war, ob Gott auch Fallschirme lieferte.
»Und?«, fragte er und blickte zum Himmel über Inverness empor, an dem die Wolken dahintrieben.
»Verzeihung?«, sagte der verblüffte Küster, der hinter einem Grabstein auftauchte, wo er gearbeitet hatte.
»Entschuldigung.« Roger winkte verlegen ab. »Nur … ein Selbstgespräch.«
Der ältere Mann nickte verständnisvoll. »Aye, aye. Das macht nichts. Wenn Sie anfangen, Antworten zu bekommen, dann erst sollten Sie sich Sorgen machen.« Mit einem heiseren Glucksen tauchte er wieder aus Rogers Blickfeld ab.
Roger stieg vom höher gelegenen Kirchhof zur Straße hinunter und ging langsam zum Parkplatz zurück. Nun, den ersten Schritt hatte er getan. Viel später, als er ihn hätte tun sollen – Brianna hatte nicht ganz unrecht; er war ein Feigling gewesen –, aber er hatte ihn getan.
Das Problem war zwar noch nicht gelöst, aber es hatte schon gutgetan, es einfach nur jemandem darzulegen, der es verstand und Mitgefühl mit ihm hatte.
»Ich werde für Sie beten«, hatte Dr. Weatherspoon gesagt, als er ihm zum Abschied die Hand schüttelte. Auch das tat gut.
Er begann, die feuchten Betonstufen zum Parkplatz hinaufzusteigen, und suchte in seiner Tasche nach dem Schlüssel. Er konnte zwar nicht behaupten, dass er schon ganz mit sich selbst versöhnt war – aber zumindest war er Brianna gegenüber um einiges versöhnlicher gestimmt. Jetzt konnte er nach Hause fahren und ihr sagen …
Nein, verdammt. Das konnte er nicht, noch nicht. Er musste erst nachsehen.
Eigentlich brauchte er nicht nachzusehen; er wusste, dass er recht hatte. Aber er musste es schwarz auf weiß haben, musste es Brianna zeigen können.
Er machte auf dem Absatz kehrt, schritt an der verwunderten Parkplatzaufsicht vorbei, die gerade von hinten kam, nahm zwei Stufen auf einmal und lief über die Straße wie auf glühenden Kohlen. Er ging in einen Pub, wühlte in seiner Tasche nach Münzen und rief vom Münzfernsprecher aus in Lallybroch an. Annie nahm den Anruf mit ihrer üblichen Unhöflichkeit entgegen und plärrte derart heftig »Hallo«, dass ihm fast das Trommelfell platzte.
Er hielt sich nicht damit auf, sie wegen ihrer Telefonmanieren zurechtzuweisen.
»Hier ist Roger. Sagen Sie meiner Frau, dass ich nach Oxford fahre, weil ich etwas nachschlagen muss. Ich bleibe über Nacht.«
»Mmpfm«, sagte sie und legte auf.
Am liebsten hätte sie Roger mit einem stumpfen Gegenstand vor den Kopf geschlagen. Zum Beispiel mit einer Champagnerflasche.
»Wohin ist er gefahren?«, fragte sie, obwohl sie Annie MacDonald deutlich gehört hatte. Annie zog die schmalen Schultern bis zu den Ohren hoch, um anzudeuten, dass sie begriffen hatte, dass die Frage rhetorisch gemeint war.
»Nach Oxford«, sagte sie. »Nach England.« Ihr Tonfall unterstrich die Ungeheuerlichkeit von Rogers Handlungsweise. Nicht nur, dass er sich einfach abgesetzt hatte, um irgendetwas in einem alten Buch nachzuschlagen – was ja schon seltsam genug gewesen wäre, obwohl er natürlich ein Gelehrter war und solche Menschen alles Mögliche taten –, nein, er hatte auch Frau und Kinder ohne ein Wort im Stich gelassen und sich in ein fremdes Land davongemacht!
»Er hat gesagt, er kommt morgen nach Hause«, fügte Annie mit großer Skepsis hinzu. Vorsichtig ergriff sie die Tüte mit der Champagnerflasche, als könnte diese explodieren. »Meinen Sie, ich soll sie auf Eis legen?«
»Auf – oh, nein, nicht in die Gefriertruhe. Nur in den Kühlschrank. Danke, Annie.«
Annie verschwand in der Küche, und Brianna blieb einen Moment im zugigen Flur stehen, um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, bevor sie Jem und Mandy suchen ging. Wie Kinder nun einmal waren, hatten sie einen hyperempfindlichen Radar, was ihre Eltern betraf. Sie wussten bereits, dass irgendetwas zwischen ihr und Roger vorging; die Tatsache, dass ihr Vater so plötzlich verschwunden war, war nicht geeignet, sie in Sicherheit zu wiegen. Hatte er sich von ihnen verabschiedet? Ihnen versichert, dass er zurückkommen würde? Nein, natürlich nicht.