»Verflixter egoistischer, egozentrischer …«, murmelte sie. Da ihr kein passender Name zur Vervollständigung einfiel, sagte sie »dämlicher Schuft!« und prustete dann zögerlich lachend los. Nicht nur, weil es eine so alberne Beleidigung war, sondern auch, weil sie bei aller Ironie zugeben musste, dass sie bekommen hatte, was sie wollte. In doppelter Hinsicht.
Natürlich hätte er sie nicht davon abhalten können, sich um die Stelle zu bewerben – und wenn er sich erst einmal an die damit verbundenen Veränderungen gewöhnt hatte, würde er, so glaubte sie, schon damit zurechtkommen.
Männer hassen Veränderungen, hatte ihre Mutter einmal beiläufig zu ihr gesagt. Es sei denn natürlich, es war ihre Idee. Aber manchmal kann man ihnen auch suggerieren, dass es ihre Idee war.
Vielleicht hätte sie weniger direkt sein sollen, versuchen sollen, Roger das Gefühl zu geben, dass er in Bezug auf ihre Anstellung zumindest ein Wort mitzureden hatte, wenn schon nicht, dass es seine Idee war – das wäre übertrieben gewesen. Aber sie war nicht in der Stimmung für eine Finte gewesen. Oder auch nur für Diplomatie.
Und was sie ihm angetan hatte … Nun, sie hatte seine Passivität ertragen, solange sie konnte, und dann hatte sie ihn ins kalte Wasser geworfen. Vorsätzlich.
»Und ich habe nicht den Hauch eines schlechten Gewissens deswegen!«, sagte sie, an den Garderobenständer gerichtet.
Sie hängte langsam ihren Mantel auf und ließ sich viel Zeit dabei, die Taschen nach gebrauchten Taschentüchern und zerknitterten Kassenbons abzusuchen.
Hatte er sich jetzt pikiert davongemacht – um es ihr heimzuzahlen, dass sie wieder arbeiten gehen wollte? Oder aus Wut, weil sie ihn einen Feigling genannt hatte? Das war schlimm für ihn gewesen; seine Augen waren schwarz geworden, und er hatte die Stimme fast ganz verloren – starke Gefühle nahmen ihm buchstäblich den Atem und lähmten ihm die Luftröhre. Doch sie hatte mit voller Absicht gehandelt. Sie wusste, wo Rogers Schwächen lagen – genau wie er wusste, wo die ihren lagen.
Ihre Lippen pressten sich zusammen, doch genau in diesem Moment berührten ihre Finger einen harten Gegenstand in der Innentasche ihrer Jacke. Eine alte Muschelschale, spitz und glatt, von Sonne und Wetter weiß gewaschen. Roger hatte sie am Loch Ness aus dem Uferkies gefischt und sie ihr gegeben.
»Darin kannst du wohnen«, hatte er gesagt. Er hatte zwar gelächelt, aber die Schroffheit seiner wunden Stimme hatte ihn verraten. »Wenn du mal ein Versteck brauchst.«
Sie schloss die Finger sanft um das Schneckenhaus und seufzte.
Roger war nicht kleinlich. Niemals. Er würde sich nicht nach Oxford davonmachen – nach England!, dachte sie, und bei der Erinnerung an Annies Entrüstung stieg ein Bläschen der Belustigung in ihr auf –, nur damit sie sich Sorgen machte.
Er war also aus einem bestimmten Grund gefahren, zweifellos ausgelöst durch ihren Streit – was ihr nun doch ein wenig Sorgen machte.
Seit ihrer Rückkehr kämpfte er mit der Situation. Natürlich ging es ihr nicht anders; Mandys Krankheit, die Entscheidung, wo sie leben wollten, all die Formalitäten und kleinen Details, die der Umzug einer Familie an einen neuen Ort – und in eine andere Zeit – mit sich brachte; all das hatten sie gemeinsam bewerkstelligt. Doch es gab Dinge, mit denen er allein rang.
Sie war als Einzelkind groß geworden, genau wie er; sie wusste, wie das war; dass man viel Zeit im eigenen Kopf zubrachte. Aber verflixt, was auch immer da mit ihm in seinem Kopf wohnte, fraß ihn vor ihren Augen auf, und wenn er ihr nicht sagte, was es war, dann war es entweder etwas, was ihm zu persönlich war, um es mit ihr zu teilen – was sie zwar geärgert hätte, womit sie aber leben konnte –, oder es war etwas, was er für zu verstörend oder zu gefährlich hielt, und das kam absolut nicht infrage.
Ihre Finger hatten sich um die Meeresschnecke gekrallt, und sie löste sie bewusst und versuchte, sich zu beruhigen.
Sie konnte die Kinder oben hören, in Jems Zimmer. Er las Mandy etwas vor – »Der Lebkuchenmann«, dachte sie. Sie konnte die Worte nicht hören, erkannte es aber am Rhythmus, unterbrochen von Mandys aufgeregten »Wauf! Wauf!«-Rufen.
Es hatte wenig Sinn, sie zu unterbrechen. Sie hatte später noch genug Zeit, ihnen zu erzählen, dass Papa über Nacht wegbleiben würde. Vielleicht würde es ihnen gar nichts ausmachen, wenn sie es ihnen ganz sachlich sagte; er hatte sie zwar seit ihrer Rückkehr noch nie allein gelassen, aber als sie noch in Fraser’s Ridge lebten, war er oft mit Jamie oder Ian auf die Jagd gegangen. Mandy würde sich daran nicht erinnern, aber Jem …
Eigentlich hatte sie vorgehabt, in ihr eigenes Studierzimmer zu gehen, doch dann ertappte sie sich dabei, dass sie den Flur durchquerte und durch die offene Tür in Rogers Zimmer ging. Es war das alte »Unter vier Augen«-Zimmer des Hauses; das Zimmer, in dem ihr Onkel Ian jahrelang die Bücher des Anwesens geführt und mit den Pächtern verhandelt hatte – und vor ihm für kurze Zeit ihr Vater und vor ihm ihr Großvater.
Und jetzt war es Rogers Zimmer. Er hatte sie gefragt, ob sie es haben wollte, doch sie hatte Nein gesagt. Sie mochte das kleine Wohnzimmer auf der anderen Flurseite mit seinem sonnigen Fenster und dem Schatten der alten gelben Rose, die diese Seite des Hauses mit ihrer Farbe und ihrem Duft verschönerte. Davon jedoch abgesehen, hatte sie einfach das Gefühl, dass dieser Raum mit seinem sauberen, abgewetzten Holzfußboden und seinen wohnlich abgenutzten Regalen ein Männerzimmer war.
Es war Roger gelungen, eines der alten Farmbücher zu finden, aus dem Jahr 1776; es lag ganz oben auf einem Regal, und ein abgegriffener Stoffeinband schützte die mit Geduld und Sorgfalt eingetragenen Kleinigkeiten des Lebens auf einer Farm in den Highlands: ein Silber-Viertelpfund für Saatgut, ein Ziegenbock für die Zucht, sechs Kaninchen, dreißig Beutel Saatkartoffeln … Hatte ihr Onkel das geschrieben? Sie wusste es nicht, denn sie hatte nie ein Schriftstück in seiner Handschrift gesehen.
Mit einem merkwürdigen kleinen Schauder fragte sie sich, ob ihre Eltern es wohl zurück nach Schottland geschafft hatten – hierher zurück. Ob sie Ian und Jenny wiedergesehen hatten; ob ihr Vater hier in diesem Zimmer gesessen hatte – sitzen würde –, wieder daheim, und mit Ian über Lallybroch gesprochen hatte. Und ihre Mutter? Den wenigen Sätzen nach, die Claire darüber erzählt hatte, waren sie und Jenny nicht in Frieden auseinandergegangen, und sie wusste, dass ihre Mutter darüber traurig war; sie waren einmal gute Freundinnen gewesen. Vielleicht ließ sich das ja kitten – vielleicht war es gekittet worden.
Sie warf einen Blick auf die kleine Holzkiste, die in Sicherheit auf dem oberen Regalboden stand, neben dem Geschäftsbuch. Die kleine Schlange aus Kirschholz ringelte sich davor zusammen. Sie nahm die Schlange in die Hand und tröstete sich an der glatten Rundung ihres Körpers und dem komischen Ausdruck ihres Gesichts, das über ihre nicht vorhandene Schulter zurückblickte. Unwillkürlich lächelte sie das Tierchen an.
»Danke, Onkel Willie«, sagte sie leise und spürte, wie sie ein außergewöhnlicher Schauer durchlief. Weder Angst noch Kälte – eine Art Freude, aber von der stillen Art. Verwandtschaft.
Sie hatte diese Schlange schon so oft gesehen – in Fraser’s Ridge und jetzt hier, wo sie ja auch geschnitzt worden war –, dass sie nie einen Gedanken an den Menschen verschwendet hatte, der sie gemacht hatte, den älteren Bruder ihres Vaters, der mit elf Jahren gestorben war. Doch auch er war hier, in seiner Hände Arbeit, in den Räumen, in denen er gelebt hatte. Bei ihrem ersten Besuch in Lallybroch – im achtzehnten Jahrhundert – hatte oben im Treppenhaus ein Gemälde gehangen, das ihn zeigte, einen kleinen, kräftigen rothaarigen Jungen, der neben seinem kleinen Bruder stand und ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte, blauäugig und ernst.