Wo war es wohl jetzt?, fragte sie sich. Und die anderen Gemälde ihrer Großmutter? Da war das Selbstporträt, das irgendwie den Weg in die Nationalgalerie gefunden hatte – irgendwann musste sie einmal mit den Kindern nach London fahren, wenn sie etwas älter waren, damit sie es sahen –, aber die anderen? Eines der Bilder hatte Jenny Murray als Mädchen beim Füttern eines zahmen Fasans gezeigt, der die sanften braunen Augen ihres Onkels Ian hatte. Brianna musste lächeln, als sie daran dachte.
Es war richtig gewesen. Hierherzuziehen, die Kinder … heimzubringen. Es war nicht so wichtig, dass es Roger und sie etwas Mühe kostete, ihren Platz im Leben zu finden. Obwohl sie vermutlich besser nicht für Roger sprechen sollte, dachte sie und verzog das Gesicht.
Sie richtete den Blick erneut nach oben auf die Holzkiste. Sie wünschte, ihre Eltern wären hier – nur einer von ihnen –, sodass sie ihnen von Roger erzählen konnte, sie nach ihrer Meinung fragen konnte. Nicht dass sie sich Ratschläge wünschte … Wenn sie ehrlich war, dachte sie, wünschte sie sich jemanden, der ihr versicherte, dass sie das Richtige getan hatte.
Mit hochroten Wangen streckte sie beide Hände aus und holte die Kiste herunter. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht abwartete, um den nächsten Brief mit Roger zusammen zu lesen. Aber … sie brauchte jetzt ihre Mutter. Sie griff nach dem ersten Brief, der außen die Handschrift ihrer Mutter trug.
In den Geschäftsräumen von L’Oignon, New Bern, North Carolina
12. April 1777
Liebe Brianna (und Roger und Jem und Mandy natürlich),
wir haben es ohne größere Zwischenfälle bis nach New Bern geschafft. Ja, ich kann hören, wie Du denkst, »größere?«. Und es stimmt tatsächlich, dass wir südlich von Boone auf der Straße von zwei Möchtegernbanditen angehalten worden sind. Da sie aber ungefähr neun und elf waren und nur mit einer antiken Radschlossmuskete bewaffnet waren, die sie beide in Stücke gerissen hätte, wenn sie sie tatsächlich hätten abfeuern können, waren wir nicht in Lebensgefahr.
Rollo ist aus dem Wagen gesprungen und hat einen von ihnen über den Haufen gerannt, woraufhin der andere die Waffe weggeworfen und Fersengeld gegeben hat. Aber Dein Vetter Ian hat ihn eingefangen und ihn am Hemdkragen zu uns zurückgezerrt.
Dein Vater hat eine Weile gebraucht, bis er ihnen ein verständliches Wort entlocken konnte, aber etwas zu essen hat dann Wunder gewirkt. Sie haben gesagt, ihre Namen sind Herman und – kein Scherz – Vermin. Ihre Eltern sind im Winter gestorben – ihr Vater ist auf die Jagd gegangen und nicht zurückgekommen; die Mutter hat ein Kind zur Welt gebracht und ist dabei gestorben, und das Baby ist einen Tag später gestorben, weil die beiden Jungen es nicht ernähren konnten. Sie kennen keine Verwandten väterlicherseits, aber sie haben gesagt, der Familienname ihrer Mutter wäre Kuykendall. Zum Glück kennt Dein Vater eine Familie Kuykendall in der Nähe von Bailey Camp, und so hat Ian die kleinen Vagabunden mitgenommen, um die Kuykendalls zu suchen und herauszufinden, ob man die zwei dort unterbringen kann. Wenn nicht, wird er sie wahrscheinlich nach New Bern mitbringen, und wir versuchen dann, sie hier als Lehrburschen unterzubringen, oder wir nehmen sie mit nach Wilmington und suchen ihnen einen Platz als Schiffsjungen.
Fergus, Marsali und den Kindern scheint es hier prächtig zu gehen, sowohl gesundheitlich – abgesehen davon, dass die ganze Familie Polypen hat und ich noch nie eine so große Warze gesehen habe wie die an Germains linkem Ellbogen – als auch finanziell.
Neben der Wilmington Gazette ist L’Oignon die einzige Zeitung in der Kolonie, die regelmäßig erscheint, und so hat Fergus viel zu tun. Nimmt man noch die Druckerei und den Verkauf von Büchern und Pamphleten dazu, ist es wirklich sehr gut um ihn bestellt. Die Familie besitzt jetzt zwei Milchziegen, eine ganze Hühnerschar, ein Schwein und drei Maultiere, darunter Clarence, den wir ihnen vererben, da wir ja auf dem Weg nach Schottland sind.
Angesichts der unsicheren Lage (will heißen, dachte Brianna, dass man nie weiß, wer – oder wann – diesen Brief zu lesen bekommt) gehe ich lieber nicht genauer darauf ein, was er druckt, abgesehen von seiner Zeitung. L’Oignon selbst gibt sich sorgsam neutral und druckt wilde Anschuldigungen der Loyalisten genauso ab wie diejenigen weniger loyaler Subjekte. Außerdem veröffentlicht das Blatt satirische Gedichte unseres guten Freundes »Anonymus«, die beide Seiten des gegenwärtigen politischen Konfliktes verspotten. Ich habe Fergus selten so glücklich gesehen.
Es gibt Männer, die im Krieg aufblühen, und Fergus ist merkwürdigerweise einer davon. Dein Vetter Ian zählt ebenfalls dazu, obwohl ich in seinem Fall glaube, dass es ihn daran hindert, allzu viel zu denken.
Ich frage mich, was seine Mutter wohl mit ihm anfangen wird. Aber so wie ich sie kenne, vermute ich, dass sie sich, sobald der erste Schreck verflogen ist, daranmachen wird, ihm eine Frau zu suchen. Jenny ist eine Frau, der nichts entgeht – und sie ist genauso stur wie Dein Vater. Ich hoffe, er vergisst das nicht.
Apropos, Dein Vater ist oft mit Fergus unterwegs, in »Geschäftsdingen« (die er nicht näher beschreibt, was bedeutet, dass er wahrscheinlich Dinge tut, von denen ich graue – oder noch grauere – Haare bekommen würde, wenn ich davon wüsste). Er holt bei den Kaufleuten Erkundigungen über ein mögliches Schiff ein, obwohl ich glaube, dass unsere Chancen in dieser Hinsicht in Wilmington besser stehen. Dorthin fahren wir, sobald Ian wieder da ist.
Unterdessen habe ich hier eine Praxis eröffnet – komplett mit einem Schild, das an der Straßenfront der Druckerei hängt und auf dem steht »ZÄHNEZIEHEN, HAUTAUSSCHLÄGE, PHLEGMA UND HEILMITTEL ALLER ART«. Es ist Marsalis Werk. Eigentlich wollte sie noch eine Zeile über die Pocken hinzufügen, aber Fergus und ich haben es ihr ausgeredet – Fergus aus Angst, das Niveau seines Etablissements zu senken, und ich, weil ich es gern mit der Wahrheit halte und es schließlich nichts gibt, was ich gegen die Krankheitsbilder tun könnte, die man heutzutage als Pocken bezeichnet. Phlegma – nun, dagegen kann man immer etwas tun, selbst wenn es nicht mehr ist als eine heiße Tasse Tee – (beziehungsweise heißes Wasser mit Sassafraswurzel, Katzenminze oder Zitronenmelisse) mit Schuss.
Unterwegs habe ich Dr. Fentiman in Cross Creek besucht und konnte ihm einige notwendige Instrumente und Arzneien abkaufen, um meine Ausrüstung wieder aufzustocken (der Preis war eine Flasche Whisky, und ich war gezwungen, mir die neueste Errungenschaft in seiner Sammlung eingelegter Kuriositäten anzusehen – nein, Du möchtest es nicht wissen, wirklich nicht. Gut, dass er Germains Warze nicht sehen kann, sonst wäre er im Handumdrehen in New Bern und würde mit einer Amputationssäge um die Druckerei herumschleichen).
Mir fehlt immer noch eine gute Chirurgenschere, aber Fergus kennt in Wilmington einen Silberschmied namens Stephen Moray; er sagt, dass er sie mir nach meinen Anweisungen anfertigen kann. Im Moment bin ich weitgehend damit beschäftigt, Zähne zu ziehen, da der Barbier, der das bis jetzt getan hat, im November im Suff in den Hafen gefallen und ertrunken ist.
Alles Liebe
Mama
PS: Apropos Wilmington Gazette, Dein Vater spielt mit dem Gedanken, dort vorstellig zu werden und zu sehen, ob er herausfinden kann, wer diese vermaledeite Notiz über das Feuer dort hinterlegt hat. Obwohl ich mich wohl nicht beklagen sollte; wenn Du sie nicht gefunden hättest, wärst Du vielleicht nie zurückgekommen. Das hatte zwar einige Folgen, von denen ich wünschte, sie wären nie geschehen – doch ich werde nie bedauern, dass Du Deinen Vater kennengelernt hast und er Dich.