»Wenn wir jetzt nicht essen, verhungern wir sofort«, sagte Trudy mit derselben Logik. »Besser, wir hungern später.«
»Wohin gehen wir denn eigentlich?« Hermione schwankte sacht hin und her wie eine schmutzige Blume im Wind.
»Nach Cross Creek«, sagte er. »Es ist der nächste, einigermaßen große Ort, und ich habe dort Bekannte.« Ob er dort allerdings Bekannte hatte, die ihm in seiner gegenwärtigen Lage helfen konnten … Schade, das mit seiner Großtante Jocasta. Wäre sie noch in River Run, hätte er die Mädchen einfach dort lassen können. Doch Jocasta und ihre Ehemann Duncan waren nach Nova Scotia emigriert. Dann war da noch Jocastas Haussklavin Phaedre … Er glaubte, dass sie in New Bern als Serviermädchen arbeitete. Doch nein – sie konnte nicht –
»Ist es so groß wie London?« Hermione ließ sich auf den Rücken plumpsen und blieb mit ausgestreckten Armen liegen. Rollo stand auf und beschnüffelte sie; sie kicherte – das erste unschuldige Geräusch, das er von ihr hörte.
»Alles gut, Hermie?« Trudy schlenderte zu ihrer Schwester hinüber und hockte sich besorgt neben sie. Nachdem Rollo Hermione gründlich beschnüffelt hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit Trudy zu, die seine neugierige Nase jedoch einfach beiseiteschob. Hermione summte jetzt tonlos vor sich hin.
»Ihr fehlt nichts«, sagte Ian, nachdem er einen raschen Blick auf sie geworfen hatte. »Sie ist wohl nur ein bisschen betrunken. Das geht vorbei.«
»Oh.« Beruhigt setzte sich Trudy neben ihre Schwester und legte die Arme um ihre Knie. »Papa war auch immer betrunken. Aber er hat dann herumgebrüllt und alles kaputt gemacht.«
»Wirklich?«
»Ja. Einmal hat er meiner Mama die Nase gebrochen.«
»Oh«, sagte Ian, denn er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. »Wie traurig.«
»Meint Ihr, er ist tot?«
»Ich hoffe es.«
»Ich auch«, sagte sie zufrieden. Sie gähnte herzhaft – er konnte ihre verfaulenden Zähne riechen – und legte sich dann auf den Boden, wo sie sich dicht an Hermione kuschelte.
Seufzend stand Ian auf, holte die Decke und deckte sie beide zu. Behutsam steckte er die Decke unter ihren kleinen, entspannten Körpern fest.
Und jetzt?, fragte er sich. Dieser Wortwechsel war das erste Mal gewesen, dass er sich tatsächlich mit den Mädchen unterhalten hatte, und er gab sich nicht der Illusion hin, dass ihr kurzer Ausflug in die Gefilde der Freundlichkeit den Tagesanbruch überdauern würde. Wo sollte er jemanden finden, der bereit und in der Lage war, sich um sie zu kümmern?
Leises Schnarchen, das wie das Summen von Bienenflügeln klang, kam unter der Decke hervor, und er lächelte unwillkürlich. Mandy, Briannas Tochter, hatte beim Schlafen solche Geräusche gemacht.
Er hatte Mandy hin und wieder schlafend auf dem Arm gehabt – einmal sogar über eine Stunde lang, weil er sich nicht von ihrem kleinen, warmen Gewicht lösen wollte – und dem Pulsschlag an ihrem Hals zugesehen. Hatte sich seine eigene Tochter vorgestellt, sehnsuchtsvoll und von einem Schmerz erfüllt, der durch den Abstand gedämpft wurde. Tot geboren, ihr Gesicht für ewig ein Rätsel. Yeka’a hatten die Mohawk sie genannt – »kleines Mädchen«, zu jung, um einen Namen zu haben. Doch sie hatte einen Namen. Iseabaìl. So hatte er sie genannt.
Er wickelte sich in das zerschlissene Plaid, das Onkel Jamie ihm mitgegeben hatte, als er beschlossen hatte, Mohawk zu werden, und legte sich neben das Feuer.
Bete. Das hätten ihm sein Onkel, seine Eltern geraten. Er war sich aber nicht sicher, zu wem er beten oder was er sagen sollte. Sollte er zu Christus sprechen oder zu Seiner Mutter oder vielleicht zu einem der Heiligen? Zum Geist der Zeder, die über dem Feuer Wache stand, oder zum Leben, das sich im Wald bewegte und im Nachtwind flüsterte?
»A Dhia«, flüsterte er schließlich dem offenen Himmel zu, »cuidich mi«, und schlief ein.
Ob es Gott war oder die Nacht selbst, die ihm antwortete – in der Morgendämmerung wachte er auf und hatte eine Idee.
Er hatte das schieläugige Dienstmädchen erwartet, doch Mrs Sylvie kam selbst an die Tür. Sie erkannte ihn wieder; er sah die Erinnerung und – so glaubte er – Vergnügen in ihren Augen aufflackern, obwohl beides natürlich nicht so weit ging, dass ein Lächeln daraus wurde.
»Mr Murray«, sagte sie kühl und ruhig. Dann senkte sie ihren Blick und verlor ein wenig von ihrer Fassung. Sie schob das Drahtgestell ihrer Brille etwas höher, um besser betrachten zu können, was ihn da begleitete, dann hob sie den Kopf und heftete den Blick voll Argwohn auf ihn.
»Was ist das?«
Er hatte diese Reaktion erwartet und war darauf vorbereitet. Ohne zu antworten, hielt er die fette kleine Börse hoch, die er vorbereitet hatte, und schüttelte sie, sodass sie das Metall darin klimpern hören konnte.
Da änderte sich ihre Miene, und sie trat zurück, um ihn und die Mädchen einzulassen, auch wenn sie nach wie vor argwöhnisch blickte.
Nicht so argwöhnisch wie die kleinen Heidenkinder – er hatte immer noch Schwierigkeiten, sie als Mädchen zu sehen –, die sich im Hintergrund hielten, bis er sie beide an den schmalen Hälschen packte und sie zielsicher in Mrs Sylvies Salon schob. Sie setzten sich zwar hin – gezwungenermaßen –, sahen aber so aus, als würden sie irgendetwas im Schilde führen, und er ließ sie keine Sekunde aus den Augen, während er sich mit der Inhaberin des Etablissements unterhielt.
»Dienstmädchen?«, sagte sie unverhohlen ungläubig und musterte die Mädchen. Er hatte sie in ihren Kleidern gewaschen – zwangsweise, und zum Dank hatte er diverse Bisswunden vorzuweisen, auch wenn zum Glück noch keine davon zu eitern begonnen hatte –, doch ihre Haare konnte man eigentlich nur abschneiden, und er hatte nicht vor, sich den beiden mit einem Messer zu nähern, weil er Angst hatte, sie oder sich selbst im Verlauf des unvermeidlichen Gerangels zu verletzen. Also saßen sie da und funkelten unter ihren Haarmatten hervor wie Kobolde, rotäugig und böswillig.
»Nun, sie wollen keine Huren werden«, sagte er geduldig. »Und das möchte ich ebenso wenig. Nicht dass ich persönlich etwas gegen diesen Beruf hätte«, fügte er höflichkeitshalber hinzu.
Neben ihrem Mund zuckte ein Muskel, und sie sah ihn durch ihre Brille scharf – und ein wenig belustigt – an.
»Es freut mich, das zu hören«, erwiderte sie trocken. Und senkte plötzlich den Blick auf seine Füße und ließ ihn dann langsam und beinahe abschätzend an seinem gesamten Körper entlangwandern, sodass er sich auf einmal fühlte, als hätte man ihn in heißes Wasser getaucht. Dann ruhte ihr Blick wieder auf seinem Gesicht, und die Belustigung war jetzt deutlicher.
Er hustete, denn er erinnerte sich – mit einer Mischung aus Verlegenheit und Lust – an eine Reihe interessanter Dinge, die sich bei ihrer letzten Begegnung zugetragen hatten. Äußerlich war sie eine einfache Frau, die auf die dreißig zuging und deren Gesicht und Verhalten eher denen einer autokratischen Nonne ähnelten als denen einer Hure. Unter dem schlichten Kalikokleid und der Musselinschürze jedoch … war sie ihren Preis wert, die gute Mistress Sylvie.
»Es soll kein Gefallen sein, aye?«, sagte er und wies kopfnickend auf die Geldbörse, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. »Ich dachte, vielleicht könnten sie Lehrmädchen werden?«
»Lehrmädchen. In einem Bordell.« Sie sagte es nicht als Frage, doch ihr Mund zuckte erneut.
»Sie könnten ja als Dienstmädchen anfangen – hier gibt es doch sicher genug zu putzen? Nachttöpfe zu entleeren und Ähnliches? Und wenn sie sich dabei klug genug anstellen« – er sah die Mädchen seinerseits scharf an, und Hermione streckte ihm die Zunge heraus –, »könnt Ihr sie ja vielleicht als Köchinnen anlernen. Oder als Näherinnen. Hier gibt es doch gewiss viel zu flicken? Zerrissene Bettwäsche zum Beispiel?«
»Wohl eher zerrissene Nachthemden«, stellte sie fest. Ihr Blick huschte zur Decke, wo rhythmische Quietschgeräusche auf die Anwesenheit eines zahlenden Kunden hindeuteten.