Die Mädchen waren von ihren Hockern gerutscht und schlichen wie Wildkatzen durch den Salon, um sich alles haargenau – und misstrauisch – anzusehen. Er begriff plötzlich, dass sie noch nie eine Stadt gesehen hatten, vom Haus einer zivilisierten Person ganz zu schweigen.
Mrs Sylvie beugte sich vor und ergriff die Geldbörse, die so schwer war, dass sie große Augen bekam. Sie öffnete den Beutel und schüttete sich ein wenig fettigen schwarzen Schrot in die Hand – und blickte scharf zu ihm auf. Er schwieg und lächelte nur. Dann streckte er die Hand aus, nahm ihr eine der schwarzen Kugeln ab, bohrte seinen Daumennagel hinein und ließ sie wieder in ihre Hand fallen. Der frei gekratzte Streifen glitzerte golden in der Schwärze auf.
Sie spitzte die Lippen und wog den Beutel noch einmal in der Hand.
»Alles?« Seiner Schätzung nach waren es mehr als fünfzig Pfund in Gold; die Hälfte dessen, was er bei sich trug.
»Es wird keine einfache Aufgabe«, sagte er. »Ich glaube, Ihr werdet es Euch verdienen.«
»Das glaube ich auch«, sagte sie und beobachtete Trudy, die in aller Selbstverständlichkeit die Hose heruntergelassen hatte und sich in einer Ecke des Kamins erleichterte. Sobald das Geheimnis ihres Geschlechtes gelüftet war, hatten die Mädchen jedes Bedürfnis nach Zurückgezogenheit aufgegeben.
Mrs Sylvie läutete ihre Silberglocke, und beide Mädchen wandten sich dem Geräusch überrascht zu.
»Warum ich?«, fragte sie.
»Mir ist sonst niemand eingefallen, der mit ihnen fertigwerden könnte«, sagte Ian schlicht.
»Ich fühle mich sehr geschmeichelt.«
»Das solltet Ihr auch«, sagte er lächelnd. »Dann sind wir uns einig?«
Sie holte tief Luft und betrachtete die Mädchen, die flüsternd die Köpfe zusammengesteckt hatten und sie zutiefst argwöhnisch beäugten. Dann atmete sie aus und schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich ist es ja ein schlechter Handel – aber die Zeiten sind hart.«
»Was, in Eurem Geschäft? Ich würde doch denken, dass der Bedarf ziemlich konstant bleibt.« Er hatte es als Scherz gemeint, doch sie kniff missbilligend die Augen zusammen.
»Oh, die Kunden sind allzeit bereit, an meine Tür zu klopfen, ganz gleich, wie die Umstände sind«, sagte sie. »Aber sie haben heutzutage kein Geld – niemand hat Geld. Ich nehme ja sogar Hühner oder ein Stück Schinken – aber die Hälfte von ihnen hat nicht einmal das. Sie bezahlen mit Proklamationsgeld oder Kontinentalwährung oder dem Soldversprechen einer Milizeinheit – dreimal dürft Ihr raten, wie viel das auf dem Marktplatz wert ist.«
»Aye, ich …« Aber sie war jetzt in Fahrt wie ein Dampfkessel und ging zischend auf ihn los.
»Oder sie bezahlen gar nicht. Wenn die Zeiten gut sind, sind es die Männer ebenso, zumindest die meisten. Aber sobald sie ein bisschen in Bedrängnis geraten, sehen sie nicht mehr ein, warum sie für ihr Vergnügen bezahlen sollen – was kostet es mich denn schon? Und ich kann sie nicht zurückweisen, sonst nehmen sie sich einfach, was sie wollen, und zünden mir dann das Haus an oder verprügeln uns zur Strafe für meine Unverfrorenheit. Das versteht Ihr doch, oder?«
Die Bitterkeit ihrer Stimme war beißend wie eine Brennnessel, und rasch verwarf er den halb garen Impuls, ihr vorzuschlagen, ihren Handel auf persönliche Weise zu besiegeln.
»Ich verstehe«, erwiderte er, so ruhig er konnte. »Aber ist das nicht immer ein Risiko Eures Berufs? Und bis jetzt ist es Euch doch gut ergangen, aye?«
Ihr Mund presste sich kurz zusammen.
»Ich hatte einen – Gönner. Einen Herrn, der mir Schutz gewährt hat.«
»Als Gegenleistung für –?«
Ihre schmalen Wangen erröteten heftig.
»Das geht Euch nichts an, Sir.«
»Nicht?« Er wies auf die Geldbörse in ihrer Hand. »Wenn ich Euch meine – diese … nun ja, die beiden« – er wies auf die Mädchen, die jetzt den Stoff eines Vorhangs betasteten – »anvertraue, habe ich doch wohl das Recht zu fragen, ob ich sie damit der Gefahr preisgebe?«
»Sie sind Mädchen«, erwiderte sie knapp. »Sie wurden in Gefahr geboren und werden ihr ganzes Leben in Gefahr verbringen, ganz gleich, was geschieht.« Doch ihre Hand hatte sich so fest um den Geldbeutel geschlossen, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Angesichts der Tatsache, dass sie das Geld sichtlich dringend brauchte, war er von ihrer Aufrichtigkeit durchaus beeindruckt. Und trotz ihrer Bitterkeit genoss er ihr Wortgefecht sehr.
»Glaubt Ihr denn, für einen Mann ist das Leben nicht gefährlich?«, fragte er und fügte ohne Pause hinzu: »Was ist denn aus Eurem Zuhälter geworden?«
Das Blut wich ihr abrupt aus dem Gesicht, das so weiß wurde wie ein gebleichter Knochen. Ihre Augen blitzten wie Funken darin auf.
»Er war mein Bruder«, sagte sie, und ihre Stimme senkte sich zu einem wütenden Flüstern. »Die Söhne der Freiheit haben ihn geteert und gefedert und ihn mir sterbend vor die Tür gelegt. Also, Sir – habt Ihr noch weitere Fragen zu meinen Angelegenheiten, oder sind wir hier fertig?«
Bevor er sich nur den Ansatz einer Antwort ausdenken konnte, öffnete sich die Tür, und eine junge Frau kam herein. Ihr Anblick erschütterte ihn bis ins Mark, und die Ränder seines Sichtfeldes färbten sich weiß. Dann kam das Zimmer ringsum wieder zur Ruhe, und er stellte fest, dass er wieder atmen konnte.
Es war nicht Emily. Die junge Frau – deren Blick neugierig von ihm zu den kleinen Wilden wanderte, die sich jetzt in die Vorhänge gewickelt hatten – war eine Halbindianerin, schlank und anmutig, mit Emilys langem, dichtem Rabenhaar, das ihr lose über den Rücken hing. Mit Emilys breiten Wangenknochen und ihrem zarten, runden Kinn. Aber es war nicht Emily.
Gott sei Dank, dachte er, doch gleichzeitig fühlte er sich hohl – als sei ihr Anblick eine Kanonenkugel gewesen, die ihn durchbohrt und ein klaffendes Loch hinterlassen hatte.
Mrs Sylvie gab der Indianerin knappe Anweisungen und zeigte dabei auf Hermione und Trudy. Die schwarzen Augenbrauen der jungen Frau hoben sich, doch sie nickte und lud die Mädchen lächelnd ein, sie in die Küche zu begleiten, um etwas zu essen.
Die kleinen Mädchen wickelten sich prompt aus den Vorhängen aus; das Frühstück war schon lange her, und er hatte nur ein bisschen Getreidebrei und etwas getrocknetes Bärenfleisch für sie gehabt, das zäh war wie Schuhleder.
Sie folgten der Indianerin zur Tür, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. An der Tür jedoch drehte sich Hermione um, zog sich ihre ausgebeulte Hose hoch, funkelte ihn finster an und zeigte anklagend mit ihrem langen, dünnen Finger auf ihn.
»Wenn wir doch Huren werden, du Mistkerl, dann suche ich dich, schneide dir die Eier ab und stopfe sie dir in den Arsch.«
Er verabschiedete sich, so würdevoll er konnte, und Mrs Sylvies schallendes Gelächter hallte ihm in den Ohren wider.
Kapitel 18
Zähneziehen
New Bern, Kolonie North Carolina
April 1777
Zähneziehen war mir ein Gräuel. Selbst unter besten Voraussetzungen – ein kräftiger Patient mit einem großen Mund, dessen kranker Zahn sich vorn im Oberkiefer befand (weniger Wurzeln und wesentlich leichterer Zugang) – war es eine blutige, glitschige, knochenbrecherische Angelegenheit. Und zu der simplen Tatsache, dass es eine körperlich unangenehme Arbeit war, gesellte sich meistens ein unausweichliches Gefühl der Niedergeschlagenheit angesichts des wahrscheinlichen Resultats.
Es war unumgänglich – abgesehen von den Schmerzen, die ein Zahnabszess verursachte, konnten dadurch Bakterien in den Blutkreislauf gelangen, die bis hin zu einer Blutvergiftung und zum Tod führten –, doch einen Zahn zu entfernen, ohne ihn irgendwie ersetzen zu können, bedeutete nicht nur, dass man das Aussehen des Patienten kompromittierte, sondern obendrein die Funktion und Struktur seines Mundes. Ein fehlender Zahn ermöglichte es seinen Nachbarn zu verrutschen, sodass sich der Gebissabdruck änderte und das Kauen an Effizienz verlor. Was wiederum die Ernährung und die allgemeine Gesundheit des Patienten und damit seine Aussichten auf ein langes und glückliches Leben beeinflusste.