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Nicht, so dachte ich grimmig, während ich mich erneut anders hinstellte, um den Zahn erspähen zu können, hinter dem ich her war, nicht, dass selbst die Extraktion mehrerer Zähne dem Gebiss des armen Mädchens noch schaden konnte, dessen Mund ich gerade bearbeitete.

Sie konnte nicht älter als acht oder neun sein und hatte einen engen Kiefer und einen deutlichen Überbiss. Ihre Milcheckzähne waren nicht rechtzeitig ausgefallen, und die bleibenden Zähne waren dahinter herausgekommen, sodass ihr die Doppelbeißer ein unheimliches Aussehen verliehen. Damit noch nicht genug, war ihr Oberkiefer so eng, dass die beiden Vorderzähne nach innen geknickt waren und in einem solch spitzen Winkel zueinander standen, dass sich ihre Vorderseiten beinahe berührten.

Ich berührte den entzündeten oberen Backenzahn, und sie bäumte sich gegen die Gurte auf, die sie auf dem Stuhl festhielten, und stieß einen Schrei aus, der mir unter die Fingernägel fuhr wie ein Bambussplitter.

»Gib ihr bitte noch etwas, Ian.« Ich richtete mich auf, denn ich fühlte mich, als wäre mein Kreuz in einen Schraubstock gezwängt. Ich arbeitete schon seit Stunden im Vorderzimmer von Fergus’ Druckerei und konnte eine kleine Schale voller blutiger Zähne an meiner Seite und ein gebanntes Publikum draußen vor dem Fenster vorweisen.

Ian stieß ein skeptisches Schottengeräusch aus, griff aber nach der kleinen Whiskyflasche und schnalzte dem kleinen Mädchen ermutigend mit der Zunge zu. Beim Anblick seines tätowierten Gesichtes schrie sie erneut auf und presste den Mund fest zu. Ihre Mutter verlor die Geduld, versetzte ihr eine Ohrfeige, riss Ian die Flasche aus der Hand und schob sie ihrer Tochter in den Mund. Sie hielt sie senkrecht in die Höhe und drückte dem Mädchen mit der anderen Hand die Nase zu.

Die Augen des Mädchens wurden kugelrund, und Whiskytropfen spritzten ihr aus den Mundwinkeln – doch ihr hageres Hälschen bewegte sich krampfhaft, als sie trotz allem schluckte.

»Ich glaube wirklich, das reicht«, sagte ich, alarmiert über die Menge an Whisky, die das Kind schluckte. Es war ziemlich schlechter Whisky, den wir im Ort gekauft hatten. Jamie und Ian hatten ihn zwar beide probiert und nach ausführlicher Diskussion beschlossen, dass davon wohl niemand blind werden würde, doch ich hatte meine Bedenken, ihn in größeren Mengen zu benutzen.

»Hm«, sagte die Mutter, die ihre Tochter kritisch betrachtete, die Flasche aber nicht zurückzog. »So ist es wohl genug.«

Das Kind hatte die Augen verdreht, und sein kämpfender kleiner Körper war plötzlich erschlafft auf dem Stuhl zusammengesunken. Die Mutter entfernte die Whiskyflasche, wischte den Flaschenhals an ihrer Schürze ab und reichte sie Ian mit einem Kopfnicken.

Hastig überprüfte ich den Puls und die Atmung der Kleinen, doch sie schien in hinreichend guter Verfassung zu sein – vorerst jedenfalls.

»Carpe diem«, murmelte ich und griff nach meiner Extraktionszange. »Oder vielleicht sollte ich sagen, carpe vinum? Behalte bitte ihre Atmung im Auge, Ian.«

Ian lachte und kippte die Flasche, um ein kleines Tüchlein zum Aufwischen mit Whisky zu befeuchten.

»Ich glaube, du hast genug Zeit für mehr als einen Zahn, Tante Claire, wenn du willst. Du könntest der armen Kleinen wahrscheinlich sämtliche Zähne ziehen, ohne dass sie zucken würde.«

»Keine schlechte Idee«, sagte ich und drehte den Kopf des Kindes zur Seite. »Kannst du mir den Spiegel bringen, Ian?«

Ich hatte einen kleinen quadratischen Spiegel, den wir mit etwas Glück benutzen konnten, um das Sonnenlicht in den Mund des Patienten zu lenken. Eigentlich strömte genug Sonnenlicht warm und hell zum Fenster herein. Unglücklicherweise pressten sich aber jede Menge neugieriger Köpfe gegen ebendieses Fenster. Immer wieder blockierten sie die Sonnenstrahlen und vereitelten Ians Versuche, das Licht dorthin zu lenken, wo ich es brauchte.

»Marsali!«, rief ich und hielt für alle Fälle meinen Daumen auf den Puls des Mädchens.

»Aye?« Sie kam aus dem Hinterzimmer, wo sie Lettern gereinigt – oder vielmehr verschmutzt – hatte, und wischte sich die verschmierten Hände an einem Lappen ab. »Braucht ihr Henri-Christian wieder?«

»Wenn es dir – oder ihm – nichts ausmacht.«

»Ihm doch nicht«, versicherte sie mir. »Nichts, was ihm besser gefällt, so wie er den Beifall liebt. Joanie! Félicité! Könnt ihr bitte den Kleinen holen? Er wird draußen gebraucht.«

Félicité und Joanie – oder auch die Höllenkätzchen, wie Jamie sie nannte – kamen mit Begeisterung; sie hatten fast genauso viel Spaß an Henri-Christians Darbietungen wie er selbst.

»Komm mit, Purzel!«, rief Joanie und hielt die Küchentür auf. Henri-Christian kam herausgetollt. Er schwankte auf seinen kurzen Beinchen hin und her, und sein rotes Gesicht strahlte.

»Opp-la, opp-la, opp-la!«, rief er und hielt auf die Tür zu.

»Setzt ihm die Mütze auf!«, rief Marsali. »Sonst bekommt er Zug in die Ohren.«

Es war ein sonniger Tag, doch es war windig, und Henri-Christian war anfällig für Mittelohrentzündungen. Doch er hatte eine Wollmütze, die man unter dem Kinn zubinden konnte, blau-weiß gestreift mit einer Reihe roter Bommel – Brianna hatte sie für ihn gestrickt, und ihr Anblick drückte mir das Herz zu, warm und schmerzvoll zugleich.

Die Mädchen nahmen ihn beide an die Hand – Félicité reckte sich im letzten Moment und nahm einen alten Schlapphut ihres Vaters von der Wand, um darin Münzen zu sammeln – und gingen unter den Beifallsrufen und Pfiffen der Menge hinaus. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie Joanie die Bücher vom Auslagentisch räumte und Félicité stattdessen ihren Bruder hinaufhievte. Er breitete strahlend seine kräftigen Stummelärmchen aus und verneigte sich elegant zu beiden Seiten. Dann bückte er sich, stellte die Hände auf die Tischplatte und stellte sich mit bemerkenswerter Anmut und Körperbeherrschung auf den Kopf.

Den Rest seiner Vorstellung wartete ich nicht mehr ab – es waren zum Großteil einfache Tanzschritte, unterbrochen von Purzelbäumen und Kopfständen, die jedoch dank seiner zwergenhaften Statur und seiner lebensfrohen Ausstrahlung verzauberten. Denn er hatte die Menge für den Moment vom Fenster weggelockt, und das war es, was ich wollte.

»Jetzt, Ian«, sagte ich und machte mich wieder an die Arbeit. Mithilfe des flackernden Lichts, das der Spiegel spendete, fiel es mir leichter zu sehen, was ich tat, und ich bekam den Zahn beinahe sofort zu fassen. Doch dies war der knifflige Teil; der Zahn war böse gesplittert, und es war gut möglich, dass er zerbrach, wenn ich ihn drehte, statt sich sauber ziehen zu lassen. Und wenn das geschah …

Doch das tat es nicht. Es ertönte ein leises, gedämpftes Krack!, als sich die Zahnwurzel vom Kieferknochen löste, und dann hatte ich den kleinen weißen Beißer vollständig in der Hand.

Die Mutter des Kindes, die mir gebannt zugesehen hatte, seufzte und entspannte sich ein wenig. Das kleine Mädchen seufzte ebenfalls und sank noch weiter in sich zusammen. Wieder vergewisserte ich mich, doch ihr Puls war regelmäßig, auch wenn sie flach atmete. Wahrscheinlich würde sie erst aufwachen, wenn …

Mir kam ein Gedanke.

»Wisst Ihr«, sagte ich etwas zögernd zu ihrer Mutter, »ich könnte ihr tatsächlich noch ein oder zwei Zähne ziehen, ohne ihr wehzutun. Hier –« Ich trat beiseite und winkte ihr, einen Blick auf den Mund ihrer Tochter zu werfen. »Diese hier« – ich berührte die überfälligen Milchzähne – »sollten sofort gezogen werden, damit die bleibenden Zähne ihren Platz einnehmen können. Und Ihr seht natürlich diese Vorderzähne … Nun, den linken oberen Bikuspidalbackenzahn habe ich ihr ja schon gezogen; wenn ich ihr den gleichen Zahn rechts auch ziehe, könnten sich ihre Zähne vielleicht ein wenig verlagern und in die Lücke wachsen. Und wenn Ihr sie dazu bringen könnt, mit der Zunge gegen die Vorderzähne zu drücken, wenn sie daran denkt …« Es war zwar noch lange keine Kieferorthopädie, und es barg durchaus ein Infektionsrisiko, aber die Versuchung war groß. Das arme Kind sah aus wie eine Vampirfledermaus.