Jamie nickte argwöhnisch, denn er fragte sich offensichtlich, wo diese Frau davon gehört hatte. Er hatte allerdings prophezeit, der ganze Ort würde es innerhalb von ein oder zwei Tagen wissen – anscheinend hatte er damit recht gehabt.
»Kennt Ihr jemanden, der eine solche Überfahrt plant?«, fragte er höflich.
»Nein. Eigentlich nicht. Ich … Das heißt … vielleicht … Es ist mein Mann«, entfuhr es ihr, doch dann brach ihr bei diesem Wort die Stimme, und sie schlug sich ihre Schürze vor den Mund. Eine ihrer Töchter, ein dunkelhaariges Mädchen, nahm ihre Mutter beim Ellbogen und zog sie beiseite; dann baute sie sich tapfer selbst vor dem Furcht einflößenden Mr Fraser auf.
»Mein Vater ist in Schottland, Mr Fraser«, sagte sie. »Meine Mutter hegt die Hoffnung, dass Ihr ihn finden könntet, wenn Ihr dorthin reist, und ihm helfen könntet, zu uns zurückzukehren.«
»Ah«, sagte Jamie. »Und Euer Vater ist …?«
»Oh! Mr Richard Bell, Sir.« Sie knickste hastig, als könnten ihr weitere Höflichkeiten helfen, ihn zu überzeugen. »Er ist – er war –«
»Er ist!«, zischte ihre Schwester leise, aber mit Nachdruck, und die erste Schwester, die Dunkelhaarige, warf ihr einen finsteren Blick zu.
»Mein Vater war Kaufmann hier im Ort, Mr Fraser. Er hatte einen großen Kundenkreis, und im Rahmen seiner Geschäfte … ergab es sich, dass er Kontakte zu einer Reihe britischer Offiziere pflegte. Es war rein geschäftlich!«, versicherte sie ihm.
»Aber in diesen fürchterlichen Zeiten ist ein Geschäft niemals nur ein Geschäft.« Mrs Bell hatte sich wieder gefangen und trat nun dicht an die Seite ihrer Tochter. »Sie haben gesagt – die Feinde meines Mannes –, sie haben verbreitet, er wäre Loyalist.«
»Was er ja auch gewesen ist«, warf die zweite Schwester ein. Diese – sie war blond und braunäugig – zitterte nicht; sie stand Jamie mit erhobenem Kinn und brennendem Blick gegenüber. »Mein Vater ist seinem König treu gewesen! Ich für meinen Teil finde nicht, dass das etwas ist, wofür man sich entschuldigen muss! Genauso wenig finde ich es richtig, etwas anderes vorzutäuschen, nur um sich der Hilfe eines Mannes zu vergewissern, der jeden Eid gebrochen hat –«
»Oh, Miri!«, sagte ihre Schwester verzweifelt. »Hättest du nicht eine Sekunde den Mund halten können? Jetzt hast du alles verdorben!«
»Das habe ich nicht«, fuhr Miriam sie an. »Oder wenn ich es habe, dann wäre es ohnehin nie dazu gekommen! Warum sollte jemand wie er uns hel–«
»Oh, doch! Mr Forbes hat gesagt –«
»Ach, zum Kuckuck mit Mr Forbes! Was weiß er denn schon?«
Mrs Bell stöhnte leise in ihre Schürze hinein.
»Warum ist Euer Vater denn nach Schottland gefahren?«, fragte Jamie und setzte dem Durcheinander damit ein Ende.
Miriam Bell war so überrascht, dass sie ihm tatsächlich antwortete.
»Er ist nicht nach Schottland gefahren. Man hat ihn auf offener Straße entführt und auf ein Schiff nach Southampton gesteckt.«
»Wer hat das getan?«, fragte ich und wand mich durch den Wald aus Röcken hindurch zur Tür. »Und warum?«
Ich steckte den Kopf in den Flur und wies den Jungen, der auf dem Treppenabsatz die Schuhe putzte, an, zum Schankraum zu gehen und uns einen Krug Wein zu holen. Angesichts des Zustands der Bells hielt ich es für eine gute Idee, irgendwie den normalen Umgang wiederherzustellen.
Ich kehrte gerade rechtzeitig zurück, um zu hören, wie Ms Lillian erklärte, dass sie nicht genau wussten, wer ihren Vater entführt hatte.
»Zumindest nicht namentlich«, sagte sie, und ihr Gesicht wurde rot vor Wut. »Die Schufte haben Kapuzen über den Köpfen getragen. Aber es waren die Söhne der Freiheit, das weiß ich bestimmt!«
»Ja, sie waren es«, sagte Ms Miriam im Brustton der Überzeugung. »Vater hatte schon öfter Drohungen von ihnen bekommen – Briefe, die an unsere Tür genagelt wurden, ein toter Fisch, den man in ein Stück roten Flanell gewickelt und auf unsere Veranda gelegt hat, sodass es anfing zu stinken. Solche Dinge.«
Ende August letzten Jahres war die Sache dann über die bloßen Drohungen hinausgegangen. Mr Bell war auf dem Weg zu seinem Lagerhaus gewesen, als eine Gruppe von Kapuzenmännern aus einer Seitengasse gerannt kam, ihn packte und zum Kai schleppte, um ihn dort auf ein Schiff zu werfen, das gerade abgetäut hatte und mit frisch geblähten Segeln ablegte.
Ich hatte zwar schon davon gehört, dass man lästige Loyalisten auf diese Weise ohne Umschweife »deportierte«, doch mir war noch nie ein konkreter Fall untergekommen.
»Wenn das Schiff nach England unterwegs war«, erkundigte ich mich, »wie ist er dann in Schottland gelandet?«
Es folgte ein geraumes Maß an Verwirrung, weil alle drei Bell-Damen gleichzeitig zu erklären versuchten, was geschehen war, doch Miriam setzte sich einmal mehr durch.
»Er ist natürlich ohne einen Penny in England angekommen. Er hatte nichts als die Kleider, die er am Leib trug, und er schuldete dem Schiffskapitän Geld für die Verpflegung und die Überfahrt. Aber der Kapitän hatte sich mit ihm angefreundet, und er hat ihn von Southampton mit nach London genommen, wo mein Vater Geschäftsfreunde hatte. Einer davon hat ihm das Geld geliehen, um seine Schulden bei dem Kapitän zu bezahlen, und ihm die Überfahrt nach Georgia versprochen, wenn er die Fracht eines Schiffes auf dem Weg von Edinburgh zu den Westindischen Inseln und von dort nach Amerika beaufsichtigen würde. Also ist er mithilfe seines Gönners nach Edinburgh gereist, nur um dort festzustellen, dass die Fracht, die er auf den Westindischen Inseln aufnehmen sollte, eine Schiffsladung Neger war.«
»Mein Mann ist Abolitionist, Mr Fraser«, warf Mrs Bell von scheuem Stolz erfüllt ein. »Er hat gesagt, er könne die Sklaverei nicht dulden oder diese Praxis unterstützen, koste es ihn, was es wolle.«
»Und Mr Forbes hat uns erzählt, was Ihr für diese Frau getan habt – Mrs Camerons Leibsklavin«, fügte Lillian nervös hinzu. »Also haben wir gedacht, selbst wenn Ihr …« Sie verstummte verlegen.
»Selbst wenn ich ein Aufrührer und Eidbrecher bin, aye«, sagte Jamie trocken. »Ich verstehe. Mr Forbes … Ist das … Neil Forbes, der Anwalt?« Er klang ein wenig ungläubig, und das mit gutem Grund.
Forbes hatte einige Jahre zuvor um Briannas Hand angehalten – ermuntert von Jocasta Cameron, Jamies Tante. Brianna hatte ihn zurückgewiesen, und zwar recht unsanft, und er hatte sich später gerächt, indem er sie von einem berüchtigten Piraten entführen ließ. Daraufhin hatten die Dinge einen unschönen Verlauf genommen; Jamie hatte seinerseits Forbes’ betagte Mutter entführt – ein Abenteuer, das der alten Dame großes Vergnügen bereitet hatte –, und Ian hatte Forbes ein Ohr abgeschnitten. Es mochte ja sein, dass die Zeit seine äußerlichen Wunden geheilt hatte, doch ich konnte mir niemanden vorstellen, von dem es weniger wahrscheinlich war, dass er Loblieder auf Jamie sang.
»Ja«, sagte Miriam, doch mir entging der unsichere Blick nicht, den Mrs Bell mit Lillian wechselte.
»Was genau hat Mr Forbes denn über mich gesagt?«, fragte Jamie. Sie wurden alle drei blass, und seine Augenbrauen fuhren in die Höhe.
»Was?«, wiederholte er deutlich schärfer. Er sagte es, direkt an Mrs Bell gewandt, in der er das schwächste Glied der Familienkette ausgemacht hatte.
»Er hat gesagt, es wäre gut, dass Ihr tot seid«, erwiderte besagte Dame nun schwach. Woraufhin sie die Augen verdrehte und wie ein Sack Gerstenkörner zu Boden plumpste.
Glücklicherweise hatte ich von Dr. Fentiman eine Flasche Ammoniak bekommen. Dieser erweckte Mrs Bell prompt zu einem Niesanfall, und ihre Töchter halfen ihrer japsenden, keuchenden Mutter auf das Bett. Da zum Glück genau an diesem Punkt der Wein gebracht wurde, schenkte ich sämtlichen Anwesenden großzügig ein und reservierte mir auch selbst einen ordentlichen Becher.