Ich setzte mich auf einen Poller, um zu essen, und zog eine kleine Schar neugieriger Seemöwen an, die wie übergewichtige Schneeflocken angeschwebt kamen und mich umringten.
»Überleg’s dir gut, Kumpel«, sagte ich und zeigte mahnend mit dem Finger auf ein besonders dreistes Exemplar, das auf meine Füße zugewackelt kam und meinen Korb beäugte. »Das ist mein Mittagessen.« Ich hatte das halb verbrannte Pamphlet noch, das Jamie mir gereicht hatte, und ich wedelte heftig damit. Die Möwen flatterten alarmiert kreischend auf, ließen sich aber unverdrossen in etwas respektvollerem Abstand erneut rings um mich nieder. Ihre Knopfaugen waren ausnahmslos auf das Brötchen in meiner Hand gerichtet.
»Ha«, sagte ich zu ihnen und schob vorsichtshalber den Korb hinter meine Füße. Ich umklammerte mein Brötchen und behielt die Möwen fest im Auge. Mit dem anderen Auge betrachtete ich den Hafen. Etwas außerhalb lag ein britisches Kriegsschiff vor Anker, und der Union Jack, der an seinem Bug flatterte, löste eine merkwürdig paradoxe Mischung aus Stolz und Beklommenheit in mir aus.
Der Stolz war ein Reflex. Ich war Engländerin. Ich hatte Großbritannien in Lazaretten gedient, auf Schlachtfeldern – pflichtbewusst und ehrenhaft –, und ich hatte viele meiner Landsleute im Dienst dieses Landes fallen sehen. Der Union Jack, den ich jetzt vor mir hatte, sah zwar etwas anders aus als der, unter dem ich gedient hatte, doch es war ohne Frage die gleiche Flagge, und bei ihrem Anblick ging mir auf instinktive Weise das Herz auf.
Gleichzeitig war ich mir der Bedrohung, die diese Flagge nun für mich und die Meinen bedeutete, nur zu bewusst. Die oberen Kanonenschächte des Schiffs standen offen; offensichtlich fand dort eine Übung statt, denn ich sah, wie die Kanonen in rascher Folge aus- und wieder eingefahren wurden und sie ihre stumpfen Nasen erst aus den Schächten steckten und sie dann wieder zurückzogen wie die Köpfe kampfsüchtiger Nagetiere. Gestern hatten noch zwei Kriegsschiffe im Hafen gelegen; das andere war verschwunden … Wohin? Befand es sich auf einer bestimmten Mission – oder kreuzte es nur rastlos vor der Hafenmündung auf und ab, allzeit bereit, jedes verdächtig aussehende Schiff zu entern, zu beschießen oder zu versenken? Ich konnte mir kaum etwas vorstellen, was verdächtiger wirkte als das Schiff, das Mr Halls Schmugglerfreund gehörte.
Wieder dachte ich an den mysteriösen Mr Beauchamp. Frankreich war noch neutral; auf einem Schiff, das unter französischer Flagge fuhr, würden wir um einiges sicherer sein. Zumindest sicherer vor den Nachstellungen der britischen Marine. Was jedoch Beauchamps Motive betraf … Widerstrebend hatte ich Fergus’ Wunsch, nichts mit dem Mann zu tun haben zu wollen, akzeptiert, doch ich fragte mich nach wie vor, warum in aller Welt sich Beauchamp so für Fergus interessierte.
Genauso fragte ich mich, ob er wohl in irgendeiner Verbindung mit meiner Sippe der Beauchamps stand, doch es gab keinen Weg, das herauszufinden; ich wusste zwar, dass Onkel Lamb einen rudimentären Stammbaum gezeichnet hatte – vor allem für mich –, doch ich hatte ihn nie genauer betrachtet. Wo war er wohl jetzt?, fragte ich mich. Er hatte ihn Frank und mir geschenkt, als wir geheiratet hatten, ordentlich abgetippt und abgeheftet.
Ob ich Mr Beauchamp in meinem nächsten Brief an Brianna erwähnen sollte? Sie musste ja unsere alten Familienunterlagen haben – kistenweise alte Steuererklärungen, ihre gesammelten Schularbeiten und Kunstprojekte … Ich lächelte bei der Erinnerung an einen Dinosaurier aus Ton, den sie mit acht Jahren getöpfert hatte, ein Monster mit Riesenzähnen, das trunken zur Seite lehnte und einen kleinen zylindrischen Gegenstand im Maul hängen hatte.
»Das ist ein Säugetier, das er gerade frisst«, hatte sie mir mitgeteilt.
»Was ist denn mit den Beinen des Säugetiers passiert?«, hatte ich gefragt.
»Sie sind abgefallen, als der Dinosaurier daraufgetreten ist.«
Diese Erinnerung hatte mich einen Augenblick abgelenkt, und eine vorwitzige Möwe näherte sich im Tiefflug und hackte nach meiner Hand. Dabei schleuderte sie die letzten Überbleibsel meines Brötchens zu Boden, wo es augenblicklich in der kreischenden Menge ihrer Kameraden verschwand.
Ich stieß einen Fluch aus – die Möwe hatte einen blutigen Kratzer auf meinem Handrücken hinterlassen –, packte das Pamphlet und warf es mitten zwischen die zankenden Vögel. Es traf einen von ihnen am Kopf, und er fiel wild flatternd auf die Seite. Dies zerstreute den Pöbel, der sich unter lauten Möwenflüchen verdrückte, dabei aber nicht einen Krümel zurückließ.
»Ha«, sagte ich erneut, nicht ohne eine gewisse grimmige Genugtuung. Dank einer obskuren, aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammenden Hemmung, Abfälle liegen zu lassen, sammelte ich das Pamphlet wieder ein. Es war jetzt in mehrere Stücke zerrissen, und ich legte sie zu einem groben Rechteck zusammen.
»Überlegungen über die Gnade«, war sein Titel, und der Untertitel lautete, Gedanken zur Natur des göttlichen Mitleids, seiner Manifestation im Menschenherzen und Instruktionen zur Verbreitung desselben zum Nutzen des Einzelnen und der Menschheit. Wahrscheinlich nicht unbedingt Mr Crupps meistverkaufter Titel, dachte ich und stopfte es an den Rand meines Korbes.
Was mich auf einen weiteren Gedanken brachte. Ich fragte mich, ob Roger es wohl eines Tages in einem Archiv finden würde. Ich hielt es für mehr als wahrscheinlich.
Bedeutete das, dass wir – zumindest ich – uns absichtlich so verhalten sollten, dass auch wir in den Archiven auftauchten? Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den meisten Nachrichten, die es – ganz gleich, in welcher Ära – in die Zeitung schafften, um Kriege, Verbrechen, Tragödien und andere Katastrophen handelte, dachte ich, lieber nicht. Die wenigen Situationen, in denen ich es fast zur Berühmtheit gebracht hätte, waren alles andere als angenehm gewesen. Und das Letzte, was ich wollte, war, dass Roger einen Bericht fand, in dem stand, dass ich wegen Bankraubs gehängt worden war, dass ich als Hexe hingerichtet worden war oder dass ich von rachsüchtigen Möwen zu Tode gehackt worden war.
Nein, schloss ich. Am besten erzählte ich Brianna einfach nur von Mr Beauchamp und unserem Familienstammbaum, und wenn Roger darin herumstochern wollte, schön und gut. Natürlich würde ich nie erfahren, ob er Mr Percival dort gefunden hatte, doch falls ja, würden zumindest Jem und Mandy ein bisschen mehr über ihre Herkunft erfahren.
Wo war er nur, dieser Ordner? Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er auf dem Aktenschrank in Franks Büro gelegen. Ich erinnerte mich deutlich daran, weil Onkel Lamb eine ziemlich verspielte Version von etwas darauf gezeichnet hatte, was ich für das Familienwapp–
»Ich bitte um Verzeihung, Madam«, sagte eine tiefe Stimme respektvoll hinter mir. »Ich sehe, dass Ihr –«
Abrupt aus meiner Erinnerung gerissen, wandte ich mich der Stimme verständnislos zu und dachte dabei vage, dass sie mir bekannt –
»Ach du lieber Himmel!«, platzte ich heraus und sprang auf. »Ihr!«
Ich trat einen Schritt zurück, stolperte über den Korb und wäre fast in den Hafen gefallen, wenn mich Tom Christie nicht gerettet hätte, indem er instinktiv nach meinem Arm griff.
Er riss mich von der Kante des Kais fort, und ich fiel gegen seine Brust. Er fuhr zurück, als bestünde ich aus geschmolzenem Metall, dann nahm er mich in die Arme, presste mich fest an sich und küsste mich mit leidenschaftlicher Hingabe.
Er brach ab, blickte mir ins Gesicht und keuchte: »Ihr seid doch tot!«
»Äh, nein«, sagte ich so verblüfft, dass ich es entschuldigend klingen ließ.
»Ich bitte – ich bitte um Verzeihung«, brachte er hervor und ließ die Arme sinken. »Ich – ich – ich –« Er sah so weiß aus wie ein Gespenst, und ich befürchtete schon, dass er in den Hafen fallen würde. Ich bezweifelte zwar, dass ich viel besser aussah, doch zumindest stand ich fest auf beiden Beinen.