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»Ihr setzt Euch besser hin«, sagte ich.

»Ich – nicht hier«, wehrte er spontan ab.

Er hatte recht. Der Kai war ein Ort, an dem reges Treiben herrschte, und unser kleines rencontre hatte bereits einige Aufmerksamkeit erregt. Einige Passanten begafften uns ganz unverhohlen und stießen sich gegenseitig an, während uns die Kaufleute, die Seeleute und die Dockarbeiter weniger direkte Blicke zuwarfen. Ich begann, mich so weit von meinem Schreck zu erholen, dass ich nachdenken konnte.

»Habt Ihr irgendwo ein Zimmer? O nein – das geht nicht, nicht wahr?« Ich konnte mir jetzt schon zu gut vorstellen, was für Geschichten im Ort die Runde machen würden, sobald wir die Docks hinter uns ließen; wenn wir uns dann auch noch in Mr Christies – im Moment konnte ich nur als »Mr Christie« an ihn denken – Zimmer zurückzogen …

»Das Wirtshaus«, sagte ich bestimmt. »Kommt mit.«

Der Fußweg zu Symonds Wirtshaus dauerte nur einige Minuten, und wir legten ihn in völligem Schweigen zurück. Hin und wieder warf ich ihm jedoch einen verstohlenen Blick zu, sowohl um mich zu vergewissern, dass er kein Gespenst war, als auch, um mir einen Eindruck von seiner gegenwärtigen Lage zu verschaffen.

Sie schien erträglich zu sein; er war anständig gekleidet, trug einen dunkelgrauen Anzug und ein sauberes Leinenhemd, und wenn er auch nicht nach der neuesten Mode gekleidet war – ich biss mir auf die Lippen bei der Vorstellung, dass Tom Christie auf die Mode achten könnte –, sah er doch zumindest nicht schäbig aus.

Ansonsten sah er in etwa so aus wie bei unserer letzten Begegnung – oder nein, verbesserte ich mich. Eigentlich sah er viel besser aus. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte ihm tiefste Trauer jede Kraft geraubt; die Tragödie des Todes seiner Tochter und die darauffolgenden Komplikationen hatten ihn am Boden zerstört. Dies war auf der Cruizer gewesen, dem britischen Schiff, auf welchem Gouverneur Martin Zuflucht gesucht hatte, als man ihn vor fast zwei Jahren aus der Kolonie vertrieb.

Damals hatte mir Mr Christie erstens seine Absicht kundgetan, den Mord an seiner Tochter zuzugeben – dessen man mich beschuldigte –, mir zweitens seine Liebe gestanden und mir drittens sein Vorhaben enthüllt, sich an meiner Stelle hinrichten zu lassen. Dies alles machte seine plötzliche Auferstehung nicht nur zu einer Überraschung, sondern obendrein zu einer mehr als nur ein wenig peinlichen Situation.

Was die Peinlichkeit noch vergrößerte, war die Frage, was er – falls überhaupt – über das Schicksal seines Sohnes Allan wusste, der tatsächlich an Malva Christies Tod schuld gewesen war. Kein Vater sollte eine Geschichte wie die seine zu hören bekommen, und ich wurde von Panik gepackt, als ich daran dachte, dass ich es ihm möglicherweise erzählen musste.

Ich sah ihn noch einmal an. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, doch es war weder eingefallen noch von offenem Gram gezeichnet. Er trug keine Perücke, obwohl sein grau meliertes Haar wie üblich kurz geschnitten war, genau wie sein gepflegter Bart. Mein Gesicht kitzelte, und ich hielt mich nur mit Mühe davon ab, mir deshalb den Mund zu reiben. Er war unleugbar verstört – nun, das war ich ebenso –, hatte sich jedoch wieder im Griff, und er öffnete mir die Wirtshaustür mit perfekter Höflichkeit. Nur das Zucken eines Muskels an seinem linken Auge verriet ihn.

Ich fühlte mich, als würde ich am ganzen Körper zucken, doch Phaedre, die im Schankraum bediente, sah mich ganz normal an und nickte freundlich. Sie war Thomas Christie natürlich noch nie begegnet, und sie hatte nach meiner Festnahme zwar mit Sicherheit von dem Skandal gehört, doch den Herrn in meiner Begleitung würde sie nicht damit in Verbindung bringen.

Wir fanden im Speisezimmer einen Tisch am Fenster und setzten uns.

»Ich dachte, Ihr seid tot«, sagte ich übergangslos. »Was habt Ihr damit gemeint, dass Ihr dachtet, ich wäre tot?«

Er öffnete den Mund, um zu antworten, wurde aber von Phaedre unterbrochen, die lächelnd an unseren Tisch kam, um uns zu bedienen.

»Kann ich Euch etwas bringen, Sir, Ma’am? Möchtet Ihr etwas essen? Wir haben heute einen schönen Schinken, Bratkartoffeln und dazu Mrs Symonds besondere Rosinen-Senfsoße.«

»Nein«, sagte Mr Christie. »Ich – nur einen Cidre, bitte.«

»Whisky«, sagte ich. »Reichlich.«

Mr Christie sah schockiert aus, doch Phaedre lachte nur und huschte davon. Ihre anmutigen Bewegungen zogen die stille Bewunderung der meisten männlichen Gäste auf sich.

»Ihr habt Euch nicht verändert«, stellte er fest. Sein Blick wanderte gebannt über mich hinweg und registrierte jedes Detail meiner Erscheinung. »Ich hätte Euch gleich an Eurem Haar erkennen müssen.«

Seine Stimme war tadelnd, aber mit einem Hauch von zögerlicher Belustigung versetzt; er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr er es missbilligte, dass ich mich weigerte, eine Haube zu tragen oder mein Haar anderweitig zu bändigen. »Liederlich« hatte er das genannt.

»Ja, das hättet Ihr«, sagte ich und hob die Hand, um besagtes Haar zu glätten, denn durch die Abenteuer des Vormittags hatte es arg gelitten. »Ihr habt mich erst erkannt, als ich mich umgedreht habe, oder? Was hat Euch denn bewogen, mich anzusprechen?«

»Ich hatte gesehen, dass Ihr eines meiner Traktate hattet.«

»Was?«, sagte ich verständnislos, folgte aber seiner Blickrichtung und sah das angesengte Pamphlet über das Göttliche Mitleid unter einem Kohlkopf hervorlugen. Ich bückte mich und zog es heraus, und erst jetzt fiel mir der Autor auf: von Mr T. W. Christie, MA, Universität Edinburgh.

»Wofür steht denn das ›W‹?«, fragte ich und legte es hin.

Er blinzelte.

»Warren«, erwiderte er schroff. »Wo in Gottes Namen kommt Ihr her?«

»Mein Vater hat stets behauptet, er hätte mich im Garten unter einem Kohlblatt gefunden«, erwiderte ich. »Oder meint Ihr heute? Falls ja, aus dem ›King’s Arms‹.«

Sein Schreck ließ allmählich nach, und die Entrüstung über meinen Mangel an weiblichem Anstand zog ihm das Gesicht wieder zu seiner üblichen strengen Miene zurecht.

»Treibt keine Scherze. Mir wurde gesagt, Ihr wärt tot«, sagte er vorwurfsvoll. »Ihr und Eure gesamte Familie wärt bei einem Brand umgekommen.«

Phaedre, die gerade die Getränke brachte, sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ich finde nicht, dass sie besonders knusprig aussieht, Sir, falls Ihr verzeiht.«

»Danke für den Kommentar«, zischte er hinter zusammengebissenen Zähnen. Phaedre wechselte einen belustigten Blick mit mir und ging kopfschüttelnd davon.

»Wer hat Euch das gesagt?«

»Ein Mann namens McCreary.«

Ich muss verständnislos ausgesehen haben, denn er fügte hinzu: »Aus Brownsville. Ich bin ihm Ende Januar hier – in Wilmington, meine ich – begegnet. Er war vor einem Tag aus den Bergen gekommen, hat er gesagt, und hat mir von dem Brand erzählt. Hat es gebrannt?«

»Nun, ja, das hat es«, sagte ich langsam und fragte mich, ob – und in welchem Ausmaß – ich ihm die Wahrheit darüber erzählen sollte. In sehr geringem, hier in der Öffentlichkeit, beschloss ich.

»Vielleicht ist es dann ja Mr McCreary gewesen, der die Nachricht über den Brand in die Zeitung gesetzt hat – aber das kann nicht sein.« Roger hatte gesagt, die Notiz wäre 1776 erschienen – fast ein Jahr vor dem Brand.

»Das war ich«, sagte Christie. Jetzt war es an mir zu blinzeln.

»Ihr? Wann denn?« Ich trank einen ordentlichen Schluck Whisky, denn ich hatte das Gefühl, ihn mehr denn je zu brauchen.

»Sobald ich es gehört hatte. Oder – nun ja, nein«, verbesserte er sich. »Ein paar Tage später. Ich … war sehr bestürzt über die Nachricht«, fügte er hinzu. Er senkte den Blick, und zum ersten Mal, seit wir uns hingesetzt hatten, sah er mich nicht mehr direkt an.