Am Mittag des nächsten Tages hing die Luft noch voller Qualm.
Er konnte den Blick nicht von Hales Händen abwenden. Sie hatten sich unwillkürlich verkrampft, als ein Gefreiter sie fesselte, obwohl er sie ohne Protest hinter seinen Rücken gelegt hatte. Jetzt hatte er die Finger so fest ineinander verschränkt, dass die Knöchel weiß geworden waren.
Natürlich protestierte der Körper, dachte William, selbst wenn sich der Verstand ergeben hatte. Sein eigener Körper protestierte ja schon allein dagegen, dass er hier sein musste, seine Haut zuckte wie ein von Fliegen geplagtes Pferd, und sein Darm verkrampfte und entkrampfte sich in grauenvollem Mitgefühl – es hieß, ein Mann am Galgen entleerte seinen Darm; würde Hale das auch tun? Bei diesem Gedanken stieg ihm das Blut ins Gesicht, und er starrte zu Boden.
Stimmen ließen ihn wieder aufblicken. Hauptmann Moore hatte Hale gefragt, ob er noch etwas anzumerken hätte. Hale nickte; offenbar hatte man ihn auf diesen Moment vorbereitet.
William hatte das Gefühl, auch er sollte jetzt vorbereitet sein; Hale hatte die beiden letzten Stunden in Hauptmann Moores Zelt verbracht, wo er Briefe an seine Familie schrieb, während die Männer, die man zu seiner hastigen Exekution zusammengetrommelt hatte, abwartend von einem Bein auf das andere traten. Er war nicht im Geringsten vorbereitet.
Warum war das so anders? Er hatte doch schon Männer sterben sehen, manche von ihnen auf schreckliche Weise. Aber diese Verbindlichkeit im Vorfeld, diese Förmlichkeit, diese … obszöne Höflichkeit, während alle Beteiligten wussten, dass all dies in Kürze auf einen schändlichen Tod hinauslaufen würde. Kaltblütig. Es war alles so furchtbar kaltblütig.
»Endlich!«, murmelte ihm Clarewell ins Ohr. »Beeilt euch, ich habe Hunger.«
Ein junger Schwarzer namens Billy Richmond, ein Privatgefreiter, den William flüchtig kannte, wurde die Leiter hinaufgeschickt, um das Seil an den Baum zu binden. Er stieg jetzt herunter und nickte dem Offizier zu.
Jetzt stieg Hale die Leiter hinauf, und der Sergeant-Major stützte ihn. Die Schlinge lag um seinen Hals, ein dickes Seil, das neu aussah. Hieß es nicht, dass neue Seile nachgaben? Aber die Leiter war ja hoch …
William schwitzte wie ein Schwein, obwohl das Wetter angenehm war. Er durfte die Augen nicht schließen, den Blick nicht abwenden. Nicht, solange ihn Clarewell beobachtete.
Er spannte die Halsmuskeln an und konzentrierte sich wieder auf Hales Hände. Die Finger des Mannes verknoteten sich hilflos, auch wenn sein Gesicht ruhig war. Sie hinterließen feuchte Spuren auf seinen Rockschößen.
Ein angestrengtes Grunzen und ein knirschendes Geräusch; die Leiter wurde fortgezogen, und Hale stieß im Fallen ein erschrockenes Uff aus. Ob das neue Seil schuld war oder etwas anderes, sein Genick brach nicht auf Anhieb.
Er hatte sich geweigert, eine Kapuze zu tragen, und so waren die Zuschauer gezwungen, während der ganzen Viertelstunde, die er zum Sterben brauchte, sein Gesicht zu beobachten. William unterdrückte den grauenvollen Drang, vor lauter Nervosität loszulachen, während er zusah, wie die blauen Augen vorquollen, bis sie beinahe platzten, und die Zunge des Mannes immer länger wurde. So überrascht. Er sah so überrascht aus.
Es hatte sich nur eine kleine Gruppe von Männern zu seiner Exekution versammelt. Ein Stück abseits sah er Richardson stehen, der geistesabwesend zusah. Als fühlte er sich beobachtet, sah Richardson scharf zu ihm auf. William wandte den Kopf ab.
Kapitel 21
Pastors Katze
Lallybroch
Oktober 1980
Sie war früh auf, noch vor den Kindern, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war – egal, was Roger in Oxford wollte, er würde gute acht oder neun Stunden für die Hinfahrt brauchen und genauso lange zurück. Selbst wenn er bei Tagesanbruch losgefahren war – und womöglich konnte er das nicht, wenn er am Vortag zu spät angekommen war, um sein Vorhaben zu erledigen –, konnte er frühestens am Nachmittag zu Hause sein. Doch sie hatte unruhig geschlafen und einen dieser monotonen, unangenehmen Träume geträumt, diesmal untermalt von den Bildern und Geräuschen einer steigenden Flut, Welle um Welle um Welle, und war bei Anbruch der Dämmerung mit einem mulmigen Gefühl aufgewacht.
Einen albtraumhaften Moment lang war ihr der Gedanke gekommen, dass sie vielleicht schwanger sein könnte – doch sie hatte sich abrupt im Bett aufgesetzt, und die Welt ringsum hatte sich auf der Stelle zurechtgerückt. Keine Spur von dem Gefühl, mit einem Bein auf der anderen Seite des Spiegels zu stehen, das so typisch für die Frühschwangerschaft war. Sie stellte einen Fuß vorsichtig auf den Boden, und die Welt – und ihr Magen – blieb, wo sie war. Das war gut.
Dennoch, das Gefühl der Beklommenheit – ob durch den Traum, durch Rogers Abwesenheit oder das Gespenst der Schwangerschaft – ließ sie nicht los, und sie ging den Alltäglichkeiten ihres Haushalts sehr geistesabwesend nach.
Gegen Mittag war sie dabei, Socken zu sortieren, als ihr bewusst wurde, wie still es war. Still auf eine Weise, die ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ.
»Jem?«, rief sie. »Mandy?«
Schweigen. Sie trat aus der Waschküche und lauschte auf die üblichen Rumpel-, Schepper- und Kreischgeräusche von oben, doch es war nichts von trampelnden Füßen, umstürzenden Bauklötzen oder den schrillen Stimmen des Geschwisterkriegs zu hören.
»Jem!«, rief sie. »Wo bist du?«
Keine Antwort. Beim letzten Mal, als dies geschehen war, vor zwei Tagen, hatte sie ihren Wecker sauber in seine Bestandteile zerlegt am Boden der Badewanne entdeckt, und beide Kinder hatten mit unnatürlich leuchtenden Unschuldsmienen am Ende des Gartens gespielt.
»Ich war’s nicht!«, hatte Jem tugendhaft erklärt, als sie ihn ins Haus zerrte und ihn mit ihren Beweismitteln konfrontierte. »Und Mandy ist noch zu klein.«
»Tu kein«, hatte ihm Mandy beigepflichtet und ihre schwarzen Locken so heftig geschüttelt, dass ihr Gesicht nicht mehr zu sehen war.
»Nun, ich glaube nicht, dass es Papa gewesen ist«, sagte Brianna und zog streng die Augenbrauen hoch. »Und ich bin mir sicher, dass es nicht Annie Mac war. Womit nicht mehr viele Verdächtige übrig bleiben, oder?«
»Dächtige, dächtige«, plapperte Mandy fröhlich, verzaubert von dem neuen Wort.
Jem schüttelte resigniert den Kopf und ließ den Blick über die verstreuten Rädchen und losen Zeiger schweifen.
»Wir müssen Kobolde haben, Mama.«
»Bolde, Bolde«, zwitscherte Mandy, die sich den Rock über den Kopf zog und an ihrer gerüschten Unterhose zerrte. »Muss mal, Mama!«
In der drangvollen Eile, die auf diese Worte folgte, war Jem geschickt verschwunden, um bis zum Abendessen nicht mehr aufzutauchen. Bis dahin war die Angelegenheit mit dem Wecker längst im üblichen Ansturm der Ereignisse untergegangen und kam erst zur Schlafenszeit wieder aufs Tapet, als Roger das Fehlen des Weckers bemerkte.
»Jem lügt normalerweise nicht«, hatte Roger nachdenklich gesagt, nachdem man ihm die kleine Keramikschale mit den Überresten der Uhr gezeigt hatte.
Brianna, die damit beschäftigt war, sich vor dem Schlafengehen die Haare zu bürsten, musterte ihn zynisch.
»Oh, du glaubst also ebenfalls, dass wir Kobolde haben?«
»Hm«, sagte er geistesabwesend und rührte mit dem Finger in dem Häufchen aus Zahnrädern herum. »Eigentlich gibt es in Schottland keine Kobolde. Schottland hat reichlich Feen und Elfenwesen«, sagte er, während er eine Handvoll Weckerinnereien aus der Schale hob und sie musikalisch wieder hineinklimpern ließ. »Aber die Schotten haben eher einen Hang zu den grimmigen Manifestationen des Übernatürlichen – Wasserpferde, Ban-sidhe und der Nuckelavee, aye? Kobolde sind ein bisschen zu frivol für Schottland. Wir haben zwar Hutzelmännchen«, fügte er hinzu und nahm ihr die Bürste aus der Hand, »aber das sind eher kleine Haushaltshelfer, keine Unfugstifter wie die Kobolde. Kannst du den Wecker wieder zusammensetzen?«