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»Klar – falls die Kobolde keines von den Einzelteilen verloren haben. Was in aller Welt ist ein Nuckelavee?«

»Es kommt von den Orkneyinseln. Nichts, was du direkt vor dem Schlafengehen hören möchtest«, versicherte er ihr. Und hatte sich über sie gebeugt und ihr dicht unter dem Ohrläppchen ganz sanft auf den Hals geatmet.

Das schwache Kribbeln bei der Erinnerung an die darauffolgenden Ereignisse verdrängte ihren Argwohn in Bezug auf die Kinder, doch dann verblasste das Gefühl und wich wachsender Sorge.

Im Haus war keine Spur von Jem oder Mandy zu finden. Annie MacDonald kam samstags nicht, und die Küche … Auf den ersten Blick schien nichts zu fehlen, doch sie kannte sich mit Jems Methoden aus.

Und da, das Paket mit den Schokoladenkeksen fehlte genau wie eine Flasche Zitronenlimo, obwohl der Schrank ansonsten in bester Ordnung war – dabei war er einen Meter achtzig hoch. Jem hatte Talent zum Einbrecher, dachte sie. Immerhin würde er dann wissen, womit er sein Geld verdienen konnte, wenn man ihn eines Tages endgültig aus der Schule warf, weil er seinen Klassenkameraden erneut Kuriositäten aus dem achtzehnten Jahrhundert erzählt hatte.

Die fehlenden Lebensmittel zerstreuten das beklommene Gefühl. Wenn sie irgendwo picknickten, konnten sie zwar im Umkreis einer halben Meile überall sein – weiter lief Mandy nicht –, doch wahrscheinlich waren sie nicht allzu weit gekommen, bevor sie sich hingesetzt hatten, um Kekse zu vertilgen.

Es war ein ausnehmend schöner Herbsttag, und obwohl sie ihren beiden Missetätern nachspüren musste, war sie froh, draußen in der Sonne und an der Luft zu sein. Die Socken konnten warten, genau wie das Unkraut und die Gemüsebeete. Und das Telefonat mit dem Klempner über den Durchlauferhitzer im Bad in der ersten Etage. Und …

»Gleichgültig, wie viel man auf einer Farm tut, es gibt immer noch mehr zu tun. Es ist ein Wunder, dass der Hof nicht über mich kommt und mich verschlingt wie bei Jonas und dem Wal.«

Einen Moment lang hörte sie die Stimme ihres Vaters, resigniert und ungeduldig, weil er sich schon wieder mit einer unerwarteten Aufgabe konfrontiert sah. Sie sah sich lächelnd nach ihm um, dann hielt sie inne und begriff, und die Sehnsucht spülte in Wellen über sie hinweg.

»Oh, Pa«, sagte sie leise. Sie ging weiter, langsamer jetzt, und plötzlich sah sie nicht mehr den Albatros eines großen, halb verfallenen Hauses, sondern den lebendigen Organismus Lallybroch und all ihre Verwandten, die ein Teil davon gewesen waren – es immer noch waren.

Die Frasers und Murrays, die Blut, Schweiß und Tränen in diese Gebäude und diesen Boden investiert hatten, ihr Leben mit diesem Land verwoben hatten. Und Onkel Ian, Tante Jenny – der Schwarm von Vettern und Cousinen, die sie so kurz kennengelernt hatte. Ihr Vetter Ian. Sie alle waren jetzt tot … Doch seltsamerweise waren sie nicht fort.

»Ganz und gar nicht fort«, sagte sie laut, und die Worte trösteten sie. Sie hatte das hintere Törchen des Gemüsegartens erreicht. Dort blieb sie stehen und blickte zu dem betagten Turm hinauf, der Lallybroch seinen Namen gab; auf diesem Hügel lag auch der Friedhof, dessen Steine zum Großteil so verwittert waren, dass die Namen und die Daten nicht mehr zu entziffern waren, während die Steine immer mehr unter Ginsterbüschen verschwanden. Und inmitten dieses grauen und schwarz-grünen Farbmusters bewegten sich zwei Flecken in Rot und Blau.

Der Pfad war mit Brombeeren überwuchert, die an ihren Jeans zerrten. Sie traf die Kinder auf allen vieren an. Die beiden beobachteten eine Ameisenkolonne – die einer Spur von Kekskrümeln folgte, die so ausgelegt war, dass sie die Ameisen über einen Hindernisparcours aus Stöckchen und Kieseln führte.

»Sieh mal, Mama!« Jem würdigte sie kaum eines Blickes, denn er war ganz in die Vorstellung vor seiner Nase vertieft. Er zeigte auf den Boden, wo er eine alte Teetasse eingegraben und mit Wasser gefüllt hatte. In der Mitte paddelte ein schwarzes Ameisenknäuel, durch die Schokokrümel ins Verderben gelockt.

»Jem! Das ist gemein! Du darfst keine Ameisen ertränken – es sei denn, sie sind im Haus«, fügte sie hinzu, denn sie erinnerte sich noch lebhaft an die letzte Invasion der Vorratskammer.

»Sie ertrinken gar nicht, Mama. Sieh doch – siehst du, was sie machen?«

Sie hockte sich neben ihn, um sich das Geschehen aus der Nähe zu betrachten, und sah, dass die Ameisen tatsächlich nicht ertranken. Die einzelnen Ameisen, die ins Wasser gefallen waren, paddelten angestrengt auf die Mitte zu, wo sich eine große Ameisenmasse aneinanderklammerte und eine schwimmende Kugel bildete, die kaum mit der Oberfläche in Berührung kam. Die Ameisen im Inneren dieser Kugel bewegten sich langsam, sodass sie ständig die Plätze wechselten. Zwar gab es am Rand das eine oder andere Tier, das sich nicht mehr regte und wahrscheinlich tot war, doch das Gros war eindeutig nicht in Gefahr zu ertrinken, weil es von den Körpern seiner Kameraden getragen wurde. Die gesamte Masse näherte sich allmählich dem Tassenrand, angetrieben von den Bewegungen der Ameisen.

»Das ist ja toll«, sagte sie fasziniert und setzte sich neben ihn, um die Ameisen zu beobachten, bevor sie schließlich Gnade verordnete und ihn die Ameisenkugel auf einem Blatt aus dem Wasser heben ließ. Kaum waren die Tiere auf dem Boden gelandet, als sie sich auch schon verstreuten und wieder ihrer Arbeit nachgingen.

»Meinst du, sie machen das absichtlich?«, fragte sie Jem. »Sich so aneinanderklammern, meine ich. Oder suchen sie nur irgendetwas, woran sie sich festhalten können?«

»Weiß nicht«, sagte er achselzuckend. »Ich sehe nach, ob es in meinem Buch steht.«

Sie sammelte die Überreste des Picknicks ein, ließ aber ein oder zwei Keksstückchen für die Ameisen liegen, weil sie fand, dass sich die Tiere das verdient hatten. Mandy war davonspaziert, während sie und Jem die Ameisen in der Teetasse beobachteten, und hockte jetzt etwas oberhalb im Schatten eines Busches, wo sie in eine lebhafte Unterhaltung mit einem unsichtbaren Gesprächspartner vertieft war.

»Mandy wollte mit Opa sprechen«, sagte Jem beiläufig. »Darum sind wir hergekommen.«

»Oh?«, sagte sie verblüfft. »Und warum kann man hier besonders gut mit ihm sprechen?«

Jem sah überrascht aus und richtete die Augen auf die verwitterten, wackeligen Steine des Friedhofs.

»Ist er denn nicht hier?«

Etwas, das viel zu überwältigend war, um es als Schauder zu bezeichnen, fuhr ihr über den Rücken. Es war weniger Jems nüchterne Art als vielmehr die Möglichkeit, dass es stimmen könnte, die ihr den Atem nahm.

»Ich – ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich denke, es könnte sein.« Sie versuchte zwar, nicht allzu oft darüber nachzudenken, dass ihre Eltern inzwischen tot waren, doch irgendwie hatte sie stets vage angenommen, dass sie in North Carolina begraben lagen – oder irgendwo anders in den Kolonien, wenn der Krieg sie aus Fraser’s Ridge vertrieben hatte.

Doch plötzlich fielen ihr die Briefe ein. Er hatte gesagt, dass er vorhatte, nach Schottland zurückzukehren. Und da Jamie Fraser ein entschlossener Mensch war, hatte er dies mehr als wahrscheinlich auch getan. War er nie wieder fortgegangen? Und wenn nicht – war ihre Mutter ebenfalls hier?

Ohne es eigentlich zu wollen, fand sie sich auf dem Weg nach oben wieder, vorbei am Fuß des alten Turms und zwischen den Steinen des Friedhofs hindurch. Sie war erst einmal hier gewesen, mit ihrer Tante Jenny. Es war früh am Abend gewesen, ein Windhauch hatte im Gras geflüstert, und Friede hatte über dem Hügel gelegen. Jenny hatte ihr die Gräber ihrer Eltern gezeigt, Brian und Ellen, die gemeinsam unter einem Ehestein lagen; ja, sie konnte die Rundung des Steins noch erkennen, auch wenn er zugewuchert und mit Moos bewachsen war und die Namen verwittert waren. Und das Kind, das gemeinsam mit Ellen gestorben war, war ebenso mit ihr beerdigt worden – ihr dritter Sohn, Robert, hatte Jenny gesagt; ihr Vater hatte darauf bestanden, dass das Kind getauft wurde, und der Name ihres kleinen Bruders war Robert.