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Sie stand jetzt mitten zwischen den Steinen; es waren so viele. Etliche der späteren Steine waren noch lesbar, sie trugen Daten aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Zum Großteil Murrays und McLachlans und McLeans. Hier und da ein Fraser oder MacKenzie.

Doch die älteren Steine waren alle zu verwittert, um die Schrift darauf entziffern zu können. Unter den schwarzen Flechten und dem weichen Moos zeichneten sich lediglich die Schatten der Buchstaben ab. Da, neben Ellens Grab, lag der winzige quadratische Stein von Caitlin Maisri Murray, Jennys und Ians sechstem Kind, das nur einen Tag alt geworden war. Jenny hatte Brianna den Stein gezeigt und sich gebückt, um sanft mit der Hand über die Buchstaben zu fahren und eine gelbe Rose vom Wegrand daraufzulegen. Außerdem hatte ein kleines Steinhäufchen darauf gelegen – Kieselsteine, die die Besucher des Grabes dort hingelegt hatten. Das Häufchen war zwar längst verstreut, doch Brianna bückte sich und suchte einen Kieselstein, den sie auf den kleinen Stein legte.

Sie sah, dass es daneben noch einen anderen gab. Noch einen kleinen Stein wie für ein Kind. Nicht ganz so verwittert, aber eindeutig fast genauso alt. Es standen nur zwei Worte darauf, dachte sie und schloss die Augen, um langsam mit dem Finger über den Stein zu fahren und die flachen, unterbrochenen Linien abzutasten. In der ersten Zeile war ein »E«. Ein »Y«, dachte sie, in der zweiten. Und vielleicht ein »K«.

Was für ein Highland-Name fängt denn mit »Y« an?, dachte sie verwundert. McKay vielleicht, aber da stimmt die Reihenfolge nicht …

»Du – äh – weißt nicht vielleicht, welches Opas Grab sein könnte, oder?«, fragte sie Jem zögernd. Sie fürchtete sich beinahe vor der Antwort.

»Nein.« Er sah überrascht aus und folgte ihrer Blickrichtung zu der Ansammlung von Steinen. Offensichtlich hatte er diese nicht mit seinem Großvater in Verbindung gebracht. »Er hat nur gesagt, dass er gern hier begraben werden möchte, und wenn ich herkäme, sollte ich ihm ein Steinchen hinlegen. Und das hab ich getan.« Sein Akzent nahm ganz natürlich eine schottische Färbung an, und wieder hörte sie die Stimme ihres Vaters, deutlich, doch diesmal lächelte sie schwach.

»Wo denn?«

»Da oben. Er ist gern hoch oben, weißt du? Wo er weit sehen kann«, sagte Jem beiläufig und zeigte bergauf. Just hinter dem Schatten des Turms konnte sie erkennen, wie sich die Spur eines angedeuteten Pfades durch das Durcheinander aus Ginster, Heide und Felsbrocken zog. Und oben auf dem Hügelkamm ragte ein großer Fels aus dieser Masse hervor, auf dessen Flanke sie zwar undeutlich, aber dennoch eine kleine Pyramide aus Kieseln entdecken konnte.

»Hast du die alle heute dort hingelegt?«

»Nein, ich lege jedes Mal einen hin, wenn ich dort bin. So ist es gedacht, aye?«

Sie hatte einen kleinen Kloß im Hals, doch sie schluckte ihn hinunter und lächelte. »Aye, das stimmt. Ich gehe nach oben und lege auch einen hin.«

Mandy saß jetzt auf einem der umgestürzten Grabsteine und legte Klettenblätter als Teller rings um die schmutzige Teetasse, die sie ausgegraben und in die Mitte gestellt hatte. Sie unterhielt sich freundlich mit den Gästen ihrer unsichtbaren Teegesellschaft. Es gab keinen Grund, sie zu stören, beschloss Brianna und folgte Jem den steinigen Pfad hinauf – der letzte Teil des Weges war so steil, dass sie ihn auf Händen und Knien zurücklegen mussten.

So dicht am Kamm des Hügels war es windig, doch sie geriet trotzdem ins Schwitzen. Feierlich legte sie ihren Stein auf das kleine Häufchen und setzte sich dann einen Moment hin, um die Aussicht zu genießen. Von hier aus war Lallybroch zum Großteil unsichtbar, genau wie die Straße, die zur Autobahn führte. Sie blickte trotzdem in diese Richtung, sah aber keine Spur von Rogers leuchtend orangefarbenem Morris Mini. Sie seufzte tief.

Es war schön hier oben. Still bis auf das Seufzen des kühlen Windes und das Summen der letzten Insekten. Kein Wunder, wenn es ihrem Vater hier –

»Jem.« Er hatte sich bequem an den Felsen gelehnt und betrachtete die umliegenden Hügel.

»Aye?«

Sie zögerte, doch sie musste es fragen.

»Du … kannst doch deinen Opa nicht sehen, oder?«

Er warf ihr einen verdatterten blauen Blick zu.

»Nein. Er ist doch tot.«

»Oh«, sagte sie, zugleich erleichtert und ein wenig enttäuscht. »Ich weiß. Ich … hatte mich nur gewundert.«

»Ich glaube, Mandy kann es vielleicht«, sagte Jem und wies kopfnickend auf seine Schwester, die unter ihnen als roter Fleck in der Landschaft aufleuchtete. »Aber man kann es nicht genau sagen. Babys reden oft mit Leuten, die man nicht sehen kann«, fügte er nachsichtig hinzu. »Das sagt Oma auch.«

Sie wusste nicht, ob sie sich wünschen sollte, dass er aufhörte, in der Gegenwart von seinen Großeltern zu sprechen, oder nicht. Es war mehr als nur ein wenig gespenstisch, doch er hatte ja gesagt, er könnte Jamie nicht sehen. Sie wollte ihn nicht fragen, ob er Claire sehen konnte – wahrscheinlich nicht –, doch sie spürte ihre Eltern in ihrer Nähe, wann immer Jem oder Mandy sie erwähnten, und sie wünschte sich natürlich, dass Jem und Mandy das Gefühl hatten, ihnen nah zu sein.

Sie und Roger hatten den Kindern die Situation erklärt, so gut sich so etwas erklären ließ. Offenbar hatte sich ihr Vater außerdem unter vier Augen mit Jem unterhalten; gut, dachte sie. Jamies Mischung aus gläubigem Katholizismus und der highlandtypischen, beiläufigen Hinnahme von Leben, Tod und Dingen, die man nicht sehen konnte, war wahrscheinlich sehr viel besser geeignet, so etwas wie die Tatsache zu erklären, dass man auf der einen Seite der Steine tot sein konnte, aber –

»Er hat gesagt, er passt auf uns auf. Opa«, fügte er hinzu und drehte ihr den Kopf zu.

Sie biss sich auf die Zunge. Nein, er hatte ihre Gedanken nicht gelesen, sagte sie sich entschlossen. Schließlich hatten sie sich gerade über Jamie unterhalten, und sie befanden sich an der Stelle, die Jem zu seinem Gedenken ausgesucht hatte. Es war also nur natürlich, dass er in Gedanken bei seinem Großvater war.

»Natürlich tut er das«, sagte sie. Sie legte ihm ihre Hand auf die zarte eckige Schulter und massierte ihm mit dem Daumen das Genick. Er duckte sich kichernd, um ihr zu entkommen, dann hüpfte er den Pfad hinunter und rutschte ein Stück auf dem Hosenboden, was seinen Jeans nicht besonders gut bekam.

Sie blieb stehen, um sich ein letztes Mal umzusehen, bevor sie ihm folgte, und dabei fiel ihr die Felsenanhäufung auf dem Gipfel eines Hügels auf, der etwa eine Viertelmeile von ihr entfernt war. Eine Felsenanhäufung war natürlich nichts Ungewöhnliches für den Gipfel eines Hügels in den Highlands – doch diese Ansammlung war irgendwie anders. Sie hielt sich die Hand über die Augen und blinzelte. Es war zwar möglich, dass sie sich irrte – doch sie war Ingenieurin; sie wusste, wie etwas von Menschenhand Gebautes aussah.

Eine Festung aus der Eisenzeit vielleicht?, dachte sie fasziniert. Am Fuß des Haufens waren mehrere Steinlagen übereinandergeschichtet, das hätte sie schwören können. Ein Fundament vielleicht. Sie würde demnächst einmal hinaufklettern müssen, um es sich genauer anzusehen – morgen, falls Roger … Wieder blickte sie zur Straße, und wieder war sie leer.

Mandy war ihrer Teegesellschaft überdrüssig geworden und wollte nach Hause. Brianna nahm ihre Tochter fest bei der Hand und trug mit der anderen die Teetasse. So stiegen sie wieder hinunter zu dem großen, weiß gekalkten Haus, dessen frisch gewaschene Fenster ihnen freundlich entgegenschimmerten.

Hatte Annie das getan?, fragte sie sich. Es war ihr gar nicht aufgefallen, und so viele Fenster zu putzen, wäre doch sicher nicht ohne großen Aufwand vonstattengegangen. Andererseits war sie durch die bange Vorfreude auf ihre neue Stelle abgelenkt gewesen. Ihr Herz tat einen kleinen Hüpfer bei dem Gedanken, dass sie am Montag ein weiteres Puzzlestück der Person, die sie einmal gewesen war, wieder einfügen würde, einen weiteren Stein im Fundament der Person, die sie jetzt war.