»Hast du … äh … hast du Dr. Weatherspoon erzählt … Was hast du ihm erzählt?«, fragte sie ihn jetzt, nachdem sie kurz nachgedacht hatte. »Ich meine, es muss ihm doch aufgefallen sein.«
»Oh, aye. Es ist ihm aufgefallen. Ich habe aber nichts gesagt, und er hat auch nichts gefragt.«
Genau das hatte er an besagtem ersten Tag zu ihr gesagt: »Hör zu, Brianna. Es ist ganz einfach. Entweder erzählen wir allen die absolute Wahrheit, oder wir erzählen gar nichts – oder so wenig wie möglich – und lassen sie denken, was sie wollen. Irgendetwas zu erfinden, wird nicht funktionieren, aye? Zu viele Stolperfallen.«
Das hatte ihr nicht gefallen; er konnte sehen, wie sich ihre Augenwinkel angespannt hatten. Doch er hatte recht, und das wusste sie. Entschlossenheit hatte sich über ihr Gesicht gebreitet, und sie hatte genickt und sich aufgerichtet.
Natürlich hatten sie ein Stück weit lügen müssen, um Jems und Mandys Existenz zu legalisieren. Doch es war Ende der Siebzigerjahre; überall in den Staaten gab es Kommunen, und lose Verbände von Wandervögeln reisten in Kavalkaden rostiger Busse durch ganz Europa. Außer den Kindern selbst hatten sie nur sehr wenig durch die Steine mitgenommen – doch in dem kleinen Schatz, den sich Brianna in ihre Taschen und ins Korsett gesteckt hatte, hatten sich auch zwei handgeschriebene Geburtsurkunden befunden, attestiert von einer gewissen Claire Beauchamp Randall, MD, verantwortliche Ärztin.
»Es ist der Wortlaut des Formulars für eine Hausgeburt«, hatte Claire gesagt, während sie sorgfältig ihre Unterschrift daruntersetzte. »Und ich bin schließlich lizenzierte Ärztin im Commonwealth Massachusetts – zumindest war ich das«, hatte sie sich verbessert und ironisch den Mund verzogen.
»Hilfschorleiter«, echote Brianna jetzt und sah ihn an.
Er holte tief Luft; es war ein herrlicher Abend, klar und mild. Er verscheuchte ein Insekt aus seinem Gesicht und biss in den sauren Apfel.
»Ich hatte eigentlich gar nicht vor, nach einer Anstellung zu fragen. Ich war da, um … um einen klaren Kopf zu bekommen. In Bezug auf meine Berufung zum Prediger.«
Sie erstarrte bei diesen Worten.
»Und …?«, drängte sie.
»Komm mit.« Er zog sie sanft hinter sich her. »Gehen wir noch ein bisschen weiter.«
Sie schlenderten durch den Gemüsegarten, an der Scheune vorbei und über den Weg, der zur hinteren Weide führte. Er hatte Milly und Blossom, die beiden Kühe, schon gemolken, und sie waren fertig für die Nacht, zwei unförmige dunkle Schatten im Gras, die friedlich vor sich hinkauten.
»Ich habe dir doch schon vom Bekenntnis von Westminster erzählt, aye?« Dies war das presbyterianische Gegenstück zum katholischen Credo, dem offiziellen Glaubensbekenntnis.
»Hm-mm.«
»Also, um Prediger bei den Presbyterianern zu werden, müsste ich in der Lage sein zu schwören, dass ich alles akzeptiere, was im Bekenntnis von Westminster steht. Das habe ich auch getan, als ich – nun ja, damals.« Er hatte so dicht davorgestanden, dachte er. Es war am Vorabend seiner Ordination gewesen, als das Schicksal in Person Stephen Bonnets eingegriffen hatte. Roger hatte alles stehen und liegen lassen müssen, um Brianna zu suchen und sie aus dem Versteck des Piraten auf Ocracoke zu retten. Nicht dass er bedauerte, das getan zu haben … Rothaarig und langbeinig schritt sie neben ihm her, anmutig wie ein Tiger, und der Gedanke, dass sie so leicht für immer aus seinem Leben hätte verschwinden können – dass er seine Tochter niemals kennengelernt hätte …
Er hustete und räusperte sich. Dann fasste er geistesabwesend an seine Narbe.
»Vielleicht tue ich es immer noch. Aber ich bin mir nicht sicher. Und das muss ich sein.«
»Was hat sich denn geändert?«, fragte sie neugierig. »Was konntest du damals akzeptieren und jetzt nicht mehr?«
Was hat sich geändert?, dachte er ironisch. Gute Frage.
»Die Prädestination«, sagte er. »Sozusagen.« Es war immer noch hell genug, um den Hauch herablassender Belustigung zu sehen, der über ihr Gesicht huschte, wenn er auch nicht wusste, ob der Widerspruch zwischen Frage und Antwort der Auslöser dafür war oder das Prinzip an und für sich. Sie hatten sich noch nie über Glaubensfragen gestritten – in dieser Hinsicht gingen sie mehr als vorsichtig miteinander um –, doch zumindest war ihnen der Glaube des jeweils anderen in seinen Grundzügen vertraut.
Er hatte ihr das Prinzip der Prädestination in einfachen Worten erklärt: nicht als unausweichliches Schicksal, das Gott dem Menschen auferlegte, oder in der Form, dass Gott das Leben jedes Menschen noch vor seiner Geburt bis in die Einzelheiten festlegte – obwohl es viele Presbyterianer genauso auffassten. Es ging um die Erlösung und um die Vorstellung, dass Gott einen Weg wählte, der zur Erlösung führte.
»Für manche Menschen«, hatte sie skeptisch gesagt. »Und den Rest verdammt Er einfach?«
Es gab auch viele Leute, die das dachten, und es hatten sich schon weitaus klügere Köpfe als er daran versucht, diesen Eindruck aus der Welt zu räumen.
»Darüber gibt es ganze Bücher, doch der grundsätzliche Gedanke ist der, dass die Erlösung nicht nur das Ergebnis unserer Handlungsweise ist – Gott handelt zuerst. Er spricht die Einladung aus, könnte man sagen, und überlässt es uns zu antworten. Aber die Entscheidung steht uns frei. Und eigentlich«, fügte er rasch hinzu, »gibt es nur eines, das nicht zur Disposition steht, wenn man Presbyterianer ist – und das ist der Glaube an Jesus Christus. Und den habe ich noch.«
»Gut«, sagte sie. »Aber wenn man Prediger ist …?«
»Dann gilt wahrscheinlich dasselbe. Und tja, hier.« Er griff abrupt in seine Tasche und reichte ihr die zusammengefaltete Fotokopie.
»Ich dachte, ich stehle besser nicht das ganze Buch«, sagte er bemüht leichtmütig. »Falls ich doch beschließe, Prediger zu werden, meine ich. Ein schlechtes Beispiel für meine Schäfchen.«
»Ho-ho«, sagte sie geistesabwesend und las, was auf dem Blatt stand. Sie hob den Kopf, und eine ihrer Augenbrauen verzog sich.
»Es ist anders, oder?«, sagte er, und wieder blieb ihm die Luft weg.
»Es ist …« Ihr Blick fuhr zu dem Dokument zurück, und sie zog die Stirn in Falten. In der nächsten Sekunde sah sie blass zu ihm auf und schluckte. »Anders. Das Datum ist anders.«
Er spürte, wie die Anspannung, die ihn während der letzten vierundzwanzig Stunden fest im Griff gehabt hatte, ein wenig nachließ. Er war also nicht dabei, den Verstand zu verlieren. Er streckte die Hand aus, und sie reichte ihm den fotokopierten Zeitungsausschnitt aus der Wilmington Gazette zurück – die Nachricht vom Tod der Frasers.
»Es ist nur das Datum«, sagte er und fuhr mit dem Daumen unter den verschwommenen Worten entlang. »Der Text – ich glaube, er ist gleich geblieben. Hast du ihn auch so in Erinnerung?« Sie hatte diesen Ausschnitt ebenfalls gefunden, als sie nach Spuren ihrer Familie in der Vergangenheit suchte – diese Notiz war der Auslöser gewesen, der Brianna durch die Steine geschickt hatte und ihn hinterher. Und das, dachte er, hat alles verändert. Danke, Robert Frost.
Sie drückte sich an ihn, um die Notiz noch einmal zu lesen. Einmal, zweimal, noch einmal, um wirklich sicher zu sein, bevor sie nickte.
»Nur das Datum«, sagte sie, und ihre Stimme klang atemlos. »Es … hat sich verändert.«
»Gut«, sagte er, und sein Ton war merkwürdig und schroff. »Als mir der Gedanke gekommen ist, musste ich erst hinfahren und nachsehen, bevor ich dich darauf ansprechen konnte. Nur, um es zu überprüfen – weil ich den Ausschnitt ja in einem Buch gefunden hatte und mich irren konnte.«
Sie nickte, immer noch ein wenig blass.