»Aber sie lebt ja noch«, sagte er mit fester Stimme. May würde ziemlich ärgerlich reagieren, wenn sie wüßte, daß er derlei schrecklichen, düsteren Gedanken nachhing. Sie selbst sah immer in allem das Positive. Nicht die Wolke, sondern den Silberstreifen am Horizont. Den Regenbogen und nicht den Regen.
Nachdem er kein schöneres Gefäß gefunden hatte, hielt Arno bei seiner Rückkehr einen schweren, grobschlächtigen Becher mit Oxymol in den Händen. May setzte sich auf und sah wieder einmal völlig unfehlbar aus. Sie hatte ihre Medizin so lange geschüttelt, bis sie sich indigo gefärbt hatte, und rieb etwas davon auf ihre Handgelenke. Im Zimmer breitete sich ein holziger Geruch aus. Er trat vor, und als er ihr den Becher überreichte, berührten Mays Finger die seinen. Arnos sommersprossige Wangen färbten sich rot. Er hoffte inständig, daß es niemandem auffiel.
»Ich habe mich nicht einen Moment wirklich in Gefahr befunden«, versicherte sie nun allen Anwesenden. »Mein Schutzengel wachte über mich, wie er das immer tut. Wer hat eurer Meinung nach dafür gesorgt, daß Christopher so dicht hinter mir war?«
Christopher wurde von allen Seiten dankbar angelächelt. Die von ihm auf dem Dach gefällte Entscheidung behagte ihm immer noch nicht richtig. Nachdem sich der Schock über den Fund des Radkreuzes gelegt hatte, hatte er nicht recht gewußt, was er mit dem Ding anstellen sollte. Sollte er es wieder dorthin legen, wo er es gefunden hatte? Und falls er so verfuhr, würde der Angreifer sich dann einbilden, nicht entdeckt worden zu sein, und selbstbewußt einen zweiten Anschlag verüben? Wenn Christopher das Radkreuz mitnahm, würde sich der Mann möglicherweise in acht nehmen und doppelt gefährlich sein. Nach längerem Abwägen hatte Christopher sich für letztere Strategie entschieden. Jetzt lag das Radkreuz in eine Decke gewickelt unter seinem Bett. Später wollte er es in Calypsos Schuppen bringen.
Das Gespräch drehte sich nun nicht mehr um Mays Wohlergehen, sondern um den Eisenklumpen und die Tatsache, wie seltsam es war, daß das Ding überhaupt auf dem Dach gelegen hatte. Heather, die sich als einzige mit der Geschichte von Manor House auseinandergesetzt hatte - in der Küchentisch-schublade lag ein kleines Büchlein zu diesem Thema -, verkündete, daß der Klumpen zum ersten Mal nach dem Ersten Weltkrieg erwähnt und damals für das Fragment einer Kanonenkugel gehalten worden war. Später deutete man ihn - zweifellos das Ergebnis des Fortschritts in den Wissenschaften und der Astronomie - als Teil eines Meteors. Egal, welchen Ursprungs das Ding sein mochte, es hatte dort oben gelegen, und weder die Allmacht der Natur noch die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg hatten das Ding auch nur einen Zentimeter verrücken können. Wie seltsam, schloß Heather, daß er ausgerechnet heute nach unten gefallen war.
Nach dieser Bemerkung verfielen alle in Schweigen. May, unter dem Schutz der Engel, schaute immer noch etwas perplex drein. Hinter dem Rücken der anderen verdrehte Trixie die Augen. Ken schien von dem Geheimnis fasziniert zu sein, und Heather vermutete, er könne es nicht erwarten, in dieser Angelegenheit Hilarions Meinung einzuholen. Tim, das Unerklärliche spürend, machte sich noch kleiner als sonst.
Die Stille breitete sich immer mehr aus, bis sich alle, einer nach dem anderen, dem Meister zuwandten. Der Raum schien vor verheißungsvoller Erwartung zu bersten. Er würde diese Disharmonien erklären können, besagten ihre vertrauensvollen Mienen. Der Meister lächelte sein obligates Lächeln. Beugte sich kurz nach unten, um Tims goldenen Schopf zu streicheln, und meldete sich schließlich zu Wort.
»Viele Dinge agieren im Vakuum des Energiefeldes. Das niedrige Stratum dynamischer Kraft ist weit davon entfernt, stabil zu sein. Subatomare Partikel sind konstant in Bewegung. Vergeßt niemals - es gibt kein ruhendes Elektron.«
Das war es also. Das fallende Objekt war nichts anderes als die Verkörperung lebendiger Materie. Die Anwesenden begannen zu nicken und zu lächeln oder den Kopf zu schütteln angesichts ihrer geistigen Trägheit. Den Handrücken auf die Stirn legend, bekundete Ken, was für ein Idiot er doch sei. Niemand widersprach ihm.
Kurz danach forderte der Meister sie auf, May ruhen zu lassen. »Und bedankt euch bei ihrem Schutzengel, wie es sich gebührt.« Damit entfernte er sich. Tim folgte ihm und trat beinahe auf den Saum seines blauen Gewandes, vor lauter Angst, zurückgelassen zu werden. An der Tür drehte sich der Meister um. »Ich mache mir große Sorgen wegen deiner für heute abend angesetzten Rückführung. Diese Reisen können überaus anstrengend sein. Wäre es dir lieber, sie auf einen anderen Abend zu verschieben?«
»Auf gar keinen Fall, Meister«, antwortete May stur. »Wir haben Neumond, und wir haben überaus verheißungsvolle Nachrichten von Hilarion erhalten. Wie würde ich mich fühlen, wenn mir Astarte eine Manifestation zuteil werden ließe und ich all diese extrem dynamische Energie nicht nutzte? Und außerdem«, sagte sie, setzte sich auf, trank einen kleinen Schluck Oxymol und strahlte die anderen an, »bin ich schon wieder ganz die alte.«
4
Es war halb fünf. Beim Abendessen waren die Craigies sicherlich anwesend. Und hinterher gab es vielleicht keine Möglichkeit mehr, Sylvie allein zu sprechen. So kam es, daß Guy verfrüht in Compton Dando eintraf. Die leise Befürchtung, daß dies eventuell nicht gern gesehen war, hatte keine Chance gehabt, neben dem alles umfassenden Deckmantel freudiger Aufregung zu bestehen.
Auf dem Weg dorthin war es ihm gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, daß der Brief in Wirklichkeit - ihm war es sehr wohl gegeben, zwischen den Zeilen zu lesen - von Sylvies Entscheidung kündete, ihm zu verzeihen. Daß sie ihn nicht persönlich über ihren Sinneswandel in Kenntnis setzen konnte, dafür brachte Guy großes Verständnis auf. Sie war tief verletzt worden und keineswegs bereit, die Rolle einer Bittstellerin einzunehmen. Und dies wünschte er auch nicht. Aber daran, daß eine Einladung ausgesprochen worden war, und zwar nicht nur mit ihrer Erlaubnis, sondern auf ihren Wunsch hin, hatte er nun nicht mehr den geringsten Zweifel. Die Jahre seiner einsamen Trauer neigten sich dem Ende zu. Mit einem Blumenstrauß und einer Karte mit den schlichten Worten »In Liebe« neben dem Haupteingang von Manor House stehend, wurde er von Glücksgefühlen übermannt. Er war darin gebadet, wie in Schweiß.
Er schaute sich nach Anzeichen von Leben um. Im Schloß steckte ein großer gotischer Schlüssel, und an einem vertikal angebrachten Eisenstab war eine rostige Klingel befestigt, an der erzog. Die Klingel tönte recht laut, aber niemand kam. Die Blumen umständlich haltend, wartete er eine Weile. Auf der Veranda standen zwei an die Wand gelehnte Holzstühle, abgenutzt und glatt wie jene, die man oft vor alten Dorfkirchen fand. Guy legte den Strauß auf einem der Stühle ab und trat einen Schritt zurück, um das bemerkenswert imposante Haus besser betrachten zu können.
Daß sie gar nicht dasein könnte, war Guy nicht in den Sinn gekommen. Sollte er erst in sein Hotel einchecken und später wiederkommen? Gina hatte ihm ein Zimmer im Chartwell Grange, dem einzig halbwegs annehmbaren Hotel weit und breit, reserviert. Guy hatte beschlossen, nach dem Abendessen, egal welchen Ausgang es nahm, nicht heimzufahren. Er wollte allein sein und das Wiedersehen mit seiner Tochter allein verdauen, genießen, im Geist noch mal durchleben und feiern. Und auch wenn Felicity nichts von der Einladung ahnte und - bis er zurückkehrte - sich mit Hilfe von Alkohol und Tabletten unter aller Garantie ins seelische Niemandsland katapultiert hatte, war Guy der Gedanke unerträglich, sich kurz nach dem Abschied von seiner Tochter ihrer Gegenwart aussetzen zu müssen.
Noch nicht gewillt aufzugeben, marschierte er am Haus entlang. Was für ein Durcheinander hier herrschte. Blumen, deren Blüten nicht aufgerichtet waren, sondern im Staub lagen. Ein immens hohes, vielfach verstrebtes blaues Etwas, das in sich zusammengefallen war und auf dem Kies verstreut lag. Er gelangte zu einer räudigen Eibenhecke, die parallel zur einer Mauer verlief. An einer Stelle waren die Äste für einen Durchgang, durch den Guy nun trat, gekappt worden.