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  Dahinter lag ein weitläufiges Rasengrundstück, auf dem Stiefmütterchen und Klee sprossen, an denen sich eine korpulente Ziege labte. In der Mitte stand eine große Zeder, die so alt wie das Haus sein mußte. Zu seinen Füßen lag ein rechtwinkliger Teich mit herumflitzenden Fischen. Manche waren wie Tiger gestreift, andere waren kleiner und hatten dünne Rücken und durchsichtige schneckenartige Hörner. Am Ende der Rasenfläche erhoben sich mehrere Bambuswigwams. Dort mußte es - das verriet ihm die Uneinheitlichkeit der Pflanzen - auch einen Gemüsegarten geben. Und endlich ein Anzeichen von menschlichem Leben. Jemand harkte Erde. Vielleicht Ian Craigie?

  Kaum hatte Guy sich richtig in Bewegung gesetzt, da stellte der Mann sein Tun ein, warf den Kopf nach hinten und begann zu deklamieren. Die Verse waren schlicht, wurden laut vorgetragen und mit befremdlichen Gesten untermalt. Der Mann warf die Arme hin und her und hielt das Gesicht in die Sonne. Leicht verstört zog sich Guy zurück.

  Wieder auf der Veranda, beschloß er, noch mal die Klingel zu betätigen, kam dann aber wieder davon ab und drehte, ohne groß nachzudenken, an dem aus einem Eisenring bestehenden Türgriff. Die Tür ging auf, und er betrat das Haus.

  Er stand in einer großen Halle mit gewölbter Decke, die mit farbenprächtig bemalten Schlußsteinen akzentuiert war. Eine beeindruckende Treppe mit aufwendig geschnitzten Treppen- und Geländerpfosten führte zu einer dreiflügeligen Musikantengalerie hoch. Der riesige Raum war nur spärlich mit äußerst schlichten Möbelstücken ausstaffiert: zwei stattliche Holztruhen, von denen eine einen kaputten Deckel hatte, zwei unfachmännisch gepolsterte Stühle, ein runder, nichtssagender Tisch, der keiner Stilperiode zuzuordnen war, und ein großer freistehender Schrank. Der einzig ansehnliche Gegenstand war ein großer, knapp zwei Meter hoher Steinbuddha auf einem Sockel. Der Kopf war mit kleinen, an Pickel erinnernde Locken verziert. Auf dem Sockel stand eine Glasschale mit Lupinen, und jemand hatte ein paar Früchte ausgelegt.

  Die Luft roch unangenehm. Nach Bohnerwachs, ungesundem Essen und feuchter Wäsche. Der Geruch einer Institution. Er mußte es wissen. Schließlich hatte er lange genug dort gelebt. Und über allem schwebte ein ziemlich aufdringliches Aroma, das - wie Guy fürchtete - Weihrauch sein mußte.

  Auf dem Tisch standen zwei Holzschalen, in denen jeweils eine schön beschriftete Karte lag. »Fühlst du dich schuldig?« und »Liebesopfer« stand darauf geschrieben. In der Schale für die Schuldgefühle lagen fünf Pence. Außerdem gab es eine Menge von Hand bedruckter Flugblätter, die von überflüssigen Hervorhebungen und eigenwillig plazierten Ausrufezeichen strotzten. Guy hob The Romance of the Enema von einem Kenneth Beavers hoch, der sich Clairaudient und Intuitiver Diagnosesteller titulierte. An der Tür, durch die er gerade eingetreten war, hing ein grüngebeiztes Anschlagbrett. Guy ging hinüber, um einen Blick darauf zu werfen, und trat fest auf, damit seine Schritte lauter als nötig klangen.

  Die daran befestigten Notizen erwiesen sich als uninteressant. Hauptsächlich Arbeitspläne. Kochen, Waschen. Calypso füttern und melken. Schnell überflog er die Liste, ohne Sylvies Namen zu entdecken. Er wußte nicht, ob er sich ermutigt fühlen oder frustriert sein sollte. An der gleichen Stelle hing auch ein großes Poster: »Mars & Venus: Das Verlangen nach Hilfe, aber sind wir bereit? Diskussion am 27. August in der Bibliothek von Causton. Melden Sie sich rechtzeitig an, dann laufen Sie nicht Gefahr, abgewiesen zu werden.«

  Lebte hier demnach eine übergeschnappte, pseudoreligiöse Truppe? Auf dem Arbeitsplan waren Männer und Frauen eingetragen. Dann handelte es sich nicht um ein Nonnenkloster. Möglicherweise war das Haus eine Art Anstalt. Die Vorstellung, daß Sylvie sich hier aufhielt, kam ihm - ehrlich gesagt -lächerlich vor. Und wo kam dieser Craigie ins Spiel? »Essen Sie mit uns zu Abend.« Stand »uns« für diese eigenartige Gruppe? Die Vorstellung behagte Guy ganz und gar nicht. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich in Gesellschaft einer Horde von Freaks mit seiner Tochter auszusöhnen. Er schaute sich nach weiteren Hinweisen um.

  Zwei Korridore gingen von der Halle ab, und da war auch eine Tür mit der Aufschrift »Büro«, die Guy öffnete. Er warf einen Blick in das fensterlose Zimmer mit auf Boden und Regalen verteilten Papieren und Akten. Auf einem Kartentisch stand ein Gestetner. In einem Ledersessel mit hoher Rückenlehne saß jemand.

  Lange, von blauem Jeansstoff eingehüllte Beine, ein bildschöner Schopf goldblondes Haar, feine Locken auf der Stirn. Eine Diele knarzte unter Guys Füßen, und die Gestalt drehte den Kopf. Es gelang ihm, einen kurzen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen, ehe sie aufstand, zum verstaubten Wandteppich rannte und sich dahinter versteckte, als wäre sie splitterfasernackt.

  Sie war das schönste Wesen, das ihm je unter die Augen gekommen war. Angesichts dieser Perfektion fiel Guy die Kinnlade runter. Es dauerte eine halbe Minute, bis er sich gefaßt hatte. Erst dann begriff er, wie sehr sie sich vor ihm fürchtete. Hechelnd wie ein in die Enge getriebenes Tier, stand sie mit dem Rücken zur Wand. Leise murmelnd begann Guy eine Entschuldigung hervorzubringen.

  »Es tut mir leid... ich wollte nicht... Es ist alles in Ordnung. Ich bin ein Besucher. Bin gekommen, um meine Tochter zu sehen.«

  Seine Worte waren nur Schall und Rauch. Ihr Keuchen wurde lauter, sie witterte Gefahr. Guy wich zurück, lächelte und zuckte mit den Schultern, um zu zeigen, daß er keine Gefahr darstellte. Dann bewegte sie sich so heftig, daß der Vorhang wegrutschte. Zum zweiten Mal erhaschte er einen Blick auf ihr Gesicht und war schockiert. Sein Magen zog sich zusammen, seine Stirn wurde kalt und klamm. Schlagartig verflog der Zauber. Angeekelt wandte er den Blick ab - das Mädchen war geisteskrank.

  Unkontrolliert verdrehte sie die dunkelblauen Augen. Sabber tropfte von ihren wohlgeformten Lippen, die sie schürzte und zu einer unansehnlichen runden Schnute zusammenpreßte. Dann bemerkte Guy zum ersten Mal die Kinnlinie und die große braune Hand, die über die Wand glitt. Langsam dämmerte ihm, daß die Gestalt keine Frau, sondern ein junger Mann war. Sein Ekel verstärkte sich noch. Am liebsten wäre er aus dem Zimmer gestürmt und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen.

  Verdammt, was für ein Ort war das hier? Er war durchaus gewillt gewesen, den ersten Kerl, der draußen im Kohlbeet allein vor sich hin gefaselt hatte, zu entschuldigen, aber dieser hier, diese zurückgebliebene Kreatur, war einfach zuviel. Die Vorstellung, daß seine Tochter in diesem Umfeld lebte, beunruhigte ihn.

  Er kehrte in die Halle zurück, wo man allem Anschein nach endlich von ihm Notiz genommen hatte. Vorhangringe aus Holz klapperten, ein Mädchen tauchte auf der Galerie auf und ging schnellen Schrittes zur Treppe hinüber.

  Sie hatte das lange dunkle Haar zu einem Zopf geflochten und trug fließende Musselinhosen. In Bewegung erinnerte sie an eine weiße Motte mit gespreizten Flügeln. Der Musselin war an den Fesseln in Bündchen zusammengefaßt, an denen winzige, fröhlich klimpernde Glöckchen befestigt waren. Barfuß hüpfte sie wie eine Wolke Distelwolle die Stufen hinunter. Ihre Füße berührten kaum den Boden. Als sie näher kam, sah er, daß ihr geflochtener Zopf mit kleinen weißen Blumen geschmückt war und ein roter Tupfer mitten auf ihrer Stirn prangte. Sich vor ihm aufbauend, legte sie wie beim Gebet die Handflächen aufeinander, um ihn zu begrüßen. »Willkommen im Golden Windhorse.« Sie verbeugte sich.

  Gezwungenermaßen mußte Guy den dritten Schock innerhalb von wenigen Minuten verdauen, reagierte aber dennoch geistesgegenwärtig. Dieser eine Augenblick war gefährlich und bot ihm gleichzeitig eine große Chance. Sein Blick ruhte auf ihrem Scheitel, der ebenfalls rot gepudert war. Er streckte die Hand aus und berührte vorsichtig ihre Schulter. Dann sagte er: »Tag, Sylvie.«