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  »Ich heiße jetzt Suhami.« Selbst ihre Stimme klang anders. Sanft, wohlklingend, leicht gedämpft, als dringe sie durch mehrere Baumwollschichten. »Das heißt tanzender Wind.«

  Im stillen spielte Guy mehrere Antworten durch, die seiner Einschätzung nach alle mißverständlich sein konnten, und schwieg. Nickte nur mit dem Kopf und zog die untere Hälfte seines Gesichts zu einem Lächeln hoch. War diese Reaktion zu kühn? Der gesenkte Blick Suhamis verriet ihm nichts. Sie sagte: »Du bist früh dran.«

  »Ja. Ich hatte gehofft, wir könnten uns vor dem Abendessen unterhalten.«

  »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.« Allein der Gedanke schien sie aufzuregen. Die Haut unter dem roten Punkt legte sich in Falten.

  Unsicher und reglos stand Guy da und starrte seine Tochter an. Nur Sylvie war in der Lage, ihn in solch einen Zustand zu versetzen, und zum ersten Mal störte es ihn wirklich, daß sie dazu fähig war.

  Ohne ein weiteres Wort entfernte sie sich. Durchmaß die Halle, verschwand in einem Korridor. Gewiß ging sie davon aus, daß er ihr folgte. Guy setzte sich in Bewegung und kam sich auf einmal unglaublich ordinär vor. Der Flur endete vor einer Glastür, die auf die Terrasse hinausführte. Kurz vor der Tür, auf der linken Seite, waren ein paar Holzhaken angebracht, an denen ein alter Regenmantel und ein Wäscheklammerbeutel hingen. Darunter standen mehrere Paare Gummistiefel und ein Paraffinofen. Gegenüber dieser Wand führten drei Steinstufen zu einer weiteren Tür, aus der das Klappern von Teelöffeln und Geschirr drang.

  Guy drückte den Türgriff runter und trat in die quadratische, niedrige Küche. Die Kacheln und die Steinspüle hatten Risse und sahen alt aus. Es gab ein langes Eisenregal, einen moderneren Gasherd. Sylvie kochte Tee. Aus einem flachen Bastkorb nahm sie Minzeblätter, legte sie in eine kleine Teekanne und goß kochendes Wasser darauf. Zuerst hoffte Guy, daß er nicht für ihn bestimmt war, dann wieder hoffte er, daß Sylvie den Tee doch für ihn aufbrühte.

  Sie ging zu einem Regal, auf dem verschiedene Messer ausgelegt waren, nahm eins herunter und begann ein Stück glänzendes, klebriges und hart aussehendes Etwas zu zerteilen. Ihr Vater, der erst vor kurzem einen Bericht über Drogen gesehen hatte, fand, das Zeug sähe wie gepreßter Cannabis aus.

  »Was ist das?«

  »Rambutanzwieback.«

  »Aha.«

  Jetzt richtete sie ein Tablett her. Offenbar war der Tee weder für sie noch für ihn. Jede Sekunde würde sie das Tablett nehmen und vielleicht endgültig verschwinden. Guy studierte das gefaßte Profil. Suchte darin nach einer Reaktion auf ihre Begegnung. Wie konnte sie nur so ruhig sein? Hatte sie tatsächlich keinen Sinn für die Bedeutung des Augenblicks? Was immer er auch erwartet haben mochte, das hier bestimmt nicht. Sie kam ihm wie eine Fremde vor. War seine Tochter und doch nicht seine Tochter.

  Möglicherweise hatte man sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Vielleicht war dies die Zentrale eines verrückten Kults - das würde das fließende Kostüm, die dummen Glöckchen und diesen lächerlichen roten Punkt erklären. Ohne einen historischen Bezugspunkt für solch eine Transformation lehnte er sie prinzipiell ab, wie ihm jedwede Veränderung widerstrebte, die ohne seine Zustimmung vonstatten ging.

  Ihm entging nicht, daß sie allen Gegenständen auf dem Tablett eine übertriebene Aufmerksamkeit schenkte. Mit extremer Präzision und widernatürlich konzentriert neigte sie zwischen den einzelnen Bewegungen den Kopf nahezu ehrerbietig. Wie bei allen Ritualen wurde auch hier der Beobachter bewußt ausgeschlossen. Ihre Ernsthaftigkeit ging Guy langsam auf die Nerven. Er verspürte den heftigen Drang, sie zu irgendeiner Reaktion zu nötigen, wohlwissend, wie unklug ein solcher Schritt wäre. Auf die Idee, daß seine Gesellschaft ihr unerträglich war, kam er nicht.

  »Ein wunderschönes Haus, Syl... ähm... Suzz... ähm...«

  »Ja. Ich bin sehr glücklich hier.«

  »Das freut mich - oh! Es freut mich, daß du glücklich bist, Sylvie.« Ihm fiel auf, daß sie angesichts seiner aufdringlichen Überschwenglichkeit zusammenschrumpfte. Auf seine Stimme achtend, fügte er hinzu: »Wie kommt das? Was bedeutet dieser Ort für dich?«

  »Ich habe hier meinen Frieden gefunden.« Eine grazile Bewegung der Hand schloß das alte Regal und die Küchenschränke. »Und Menschen, denen wirklich etwas an mir liegt.«

  Ohne groß zu murren, fing Guy den Schlag unter die Gürtellinie ab.

  Er konnte sehen, daß sie es ernst meinte. Das wußte er nun. Oder dachte es, was auf das gleiche hinauslief. Daher rührten zweifellos ihr ausdrucksloses Gesicht, ihre fließenden Bewegungen, ihre vagen Verbeugungen. Demut war Guy unerträglich. Wenn es nach ihm ging, konnte man sich Bescheidenheit in den Hintern schieben. Wieder wandte sie sich mit ihrer geschlechtslosen sanften Stimme an ihn: »... und als der Meister vorschlug, daß du eingeladen werden sollst, haben wir alle über diesen Vorschlag diskutiert und sind übereingekommen, daß mein Geburtstag der passende Zeitpunkt ist.«

  Der zweite, so ganz beiläufig ausgeteilte Schlag unter die Gürtellinie setzte Guy wesentlich stärker zu als der vorige. Um ehrlich zu sein, er hing in den Seilen. Sein Besuch war also nicht ihre Idee gewesen. Der Vorschlag stammte von einer Horde Irrer, die alles miteinander teilten, die permanent füreinander da waren, Frieden predigten und die Venus beobachteten. Seine Anwesenheit an diesem Ort wurde von ihnen nur geduldet. Der Gedanke verletzte seinen Stolz. Und machte ihn eifersüchtig. Ganz spontan wollte er unhöflich sein. Ihr weh tun, weil sie ihm diesen Schlag versetzt hatte.

  »Ich denke, das wird sich legen.«

  »Was?«

  »All dieser Frieden und so.«

  »Nein, das wird sich nicht legen.«

  »Du bist noch sehr jung, Sylvie.«

  »Ich bin älter, als ich aussehe.«

  Die Worte waren voller Bitterkeit. Er schaute zu ihr hinüber, und die Kluft schloß sich. Ehrlichkeit erblühte, und plötzlich machten sich in der Küche jämmerliche Reminiszenzen der Vergangenheit breit. Verpaßte Chancen, Gesten, die nie ausgeführt, Lieder, die nie gesungen worden waren. Guy ging auf sie zu, und sie wich zurück.

  »Es tut mir so leid, Sylvie. Bitte... glaub mir ...es tut mir so leid.«

  »Ach, warum bist du nur gekommen?« Sie verlor die Fassung. In ihren Augen funkelten auf einmal Tränen.

  »Ich habe einen Brief erhalten -«

  »Ich meine, wieso bist du jetzt gekommen? Wieso konntest du nicht einfach wie verabredet um halb acht kommen?«

  »Das habe ich dir schon vorhin erklärt. Ich wollte -«

  »Du wolltest, du wolltest. Kannst du nicht einmal in deinem Leben tun, was jemand anderer will? Ist das dir ganz und gar unmöglich?« Sie brach ab, drehte sich um und legte die Hände aufs Gesicht.

  Bedrückendes Schweigen machte sich breit. Guy, tief betroffen von diesem abrupten und erschreckenden Umschwung, von ihrer Ablehnung, senkte den Kopf. Er mußte erkennen, daß es seine Schuld war. War es nicht unwichtig, daß diese Gelegenheit, seine Tochter zu treffen, von Fremden initiiert worden war? Man hatte ihm eine Chance gewährt - allein das zählte. Und er hatte in dieser ihm fremden Umgebung den Mantel der Feindschaft übergestreift und selbstherrlich die Zügel in die Hände genommen. Ich habe alles versaut, dachte er und verdrängte die Erkenntnis auf der Stelle. Ein falscher Schritt war noch keine Katastrophe.

  Sein Blick bohrte sich in Sylvies Rücken. Der dicke, mit Blumen verzierte Zopf war nach vorn gefallen und kaschierte nun nicht mehr jene zarte Einbuchtung unterhalb ihres Halses. Wenigstens das hatte sich nicht geändert. Die Stelle wirkte so zart und zerbrechlich wie eh und je. Er hatte mal gehört, daß sie die Exekutionslinie genannt wurde, und war erschauert, als wäre das sein Metier. Stotternd begann er zu sprechen.