»Ich fürchte, ich habe falsch gehandelt, aber nur, weil ich dich so gern sehen wollte. Und jetzt, wo ich dich sehen kann, scheine ich nicht in der Lage zu sein... « Das Ausmaß seiner Hilflosigkeit, seines reuigen Verlangens schnürte ihm die Kehle zu.
Suhamis bis dahin gerader Rücken krümmte sich. Schon schämte sie sich für ihren unkontrollierten Gefühlsausbruch. So durfte sie sich nicht verhalten. Welchen Sinn hatte die Meditation, das Ringen darum, im Licht zu wandeln und allen empfindungsfähigen Wesen ihre Liebe darzubieten, wenn sie nicht einmal in der Lage war, einem einzelnen Menschen Höflichkeit entgegenzubringen? Ihr Vater war ein verabscheuungswürdiger Mann, doch hassen durfte sie ihn nicht. Er hatte ihr unermeßlichen Schmerz zugefügt, aber sie durfte keine Rache üben. Der Meister hatte ihr in dieser Sache mit Rat und Tat zur Seite gestanden, und sie wußte, daß er recht hatte. Bosheit zu nähren hieß nur, sich selbst zu schaden. Ihr Vater konnte einem leid tun. Wer auf dieser Welt liebte ihn schon? Doch ich - Suhami atmete tief durch und beruhigte sich - habe Liebe kennengelernt. Vom Meister, von meinen Freunden hier, von Christopher. Man hat mich genährt und sich um mich gesorgt. Sollte ich dafür nicht auch Großzügigkeit walten lassen? Sie drehte sich um und blickte ihm ins Gesicht. Noch immer wirkte er optimistisch, aber längst nicht mehr so forsch. Sein Kinn ruhte auf seiner Brust.
»Mir tut es auch leid. Du darfst nicht denken...« Sie suchte nach etwas, das der Wahrheit entsprach. »Jeder ist fasziniert von der Idee, dich kennenzulernen.«
Guy antwortete blitzschnelclass="underline" »Und ich freue mich darauf, die Craigies kennenzulernen.«
»Die...?« Suhami war verwirrt und lachte dann, als habe er etwas wirklich Witziges gesagt. »Oh... so ist es nicht.« Sie hob den Zopf und ließ ihn wieder auf ihren Rücken fallen. »So ist es überhaupt nicht.« Dann hob sie das Tablett auf. »Ich muß das hier dem Meister bringen.«
»Ist der Tee inzwischen nicht kalt?«
»Nein, ich denke nicht.«
Guy fiel es wie Schuppen von den Augen, daß sie sich nur wenige Minuten in der Küche aufgehalten hatten. Kaum zehn Minuten waren verstrichen, seit sie sich in der Halle begegnet waren. Zehn Minuten, in denen er Achterbahn gefahren war während einer Begegnung, die ihn seit Tagen unablässig beschäftigte.
Auf der Treppe drehte sie sich um und zeigte auf die verglaste Tür neben den Gummistiefeln. »Du kannst da rausgehen. Vielleicht hast du ja Lust, dir den Garten anzusehen? Oder die Bibliothek?«
»Ich denke, ich werde gehen, meinen Koffer ins Hotel bringen und eine Dusche nehmen. Ich habe ein Zimmer reserviert.«
»In einem Hotel?«
»Ich habe beschlossen, dort zu übernachten. Dachte, ich würde hier vielleicht stören. Ich möchte keine Umstände machen.«
Suhami fixierte ihn einen Moment lang und lächelte dann. Die Vorstellung, daß ihr Vater nicht stören wollte, amüsierte sie, aber ihr Vater legte ihre Reaktion als einzigartig und als Beweis ihrer Zuneigung aus. Seine von Zorn und Kummer verdrängte Selbstsicherheit kehrte zurück. Er konnte es schaffen. Er mußte sich nur an ihre Spielregeln halten. Er würde allem zustimmen, jeden mögen und sich - falls nötig - verstellen. Während er beobachtete, wie seine Tochter sich entfernte, empfand er große Befriedigung, als habe er diese unmögliche Leistung schon vollbracht.
Er würde Sylvie beweisen, daß er in der Lage war, sich zu ändern. Womöglich würde es ihm sogar gelingen, sie von der Echtheit seiner Gefühle zu überzeugen. Aufgeregt und hoffnungsvoll schlenderte er an dem alten Ofen und den Gummistiefeln vorbei und trat hinaus in die Sonne.
5
»Da ist jemand auf der Terrasse.« Trixies Wange rieb über den Fensterrahmen. Die Bewegung produzierte ein leises Quietschen, veranlaßte den Mann jedoch nicht, zu ihr hochzusehen. »Ich nehme an, das ist Suhamis Vater.«
Janet kam herüber, legte vorsichtig die Hand auf Trixies Schulter und schaute ebenfalls nach unten. Trixie ließ sie stehen und sagte: »Er sieht wie ein Gangster aus.«
Das tat er tatsächlich ein bißchen. Die schwere Statur in Verbindung mit der durchschnittlichen Größe verlieh Guy ein fast kubisches Aussehen. Sein Unterkiefer, vom Rasieren normalerweise lilagrau, hatte nun die Farbe von Treibhaustrauben.
»Und was für ein gräßlicher Anzug.« Mit diesem Kommentar zu dem Gieves-&-Hawkes-Anzug aus einem doppelfädigen Seiden-Mohair-Gemisch verbündete Janet sich mit ihrer Freundin. Sie musterte den mächtigen, überraschend wohlgeformten Schädel mit den dunklen Locken, die auf breite, fleischige Schultern fielen. Anscheinend hatte er keinen Hals. »Ich wette, er trägt ein Toupet.«
»Auf gar keinen Fall.« Trixie ließ sich in einen grünen Sessel fallen und schwang die Beine über die Armlehne. Sie trug einen dünnen Nylonmorgenmantel und kaum was darunter. »Ich finde, er sieht eigentlich ziemlich umtriebig aus. Ein bißchen wie jener eigenartige Mann aus deinem Buch. Der Minnator.«
»Minotaur.« Zu spät. Janet hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Hättest Lehrerin werden sollen«, giftete Trixie. Sie mußte an verstaubte Tafeln denken, an böswillige oder uninteressierte Schüler, an einsame Nächte, in denen flüchtige Hausarbeiten korrigiert wurden. »Hackst immer auf anderen rum.«
»Tut mir leid.«
»Was willst du überhaupt?«
»Ich wollte mir einen Wattebausch borgen.«
In Wirklichkeit liebte es Janet einfach, sich in diesem Zimmer aufzuhalten, selbst wenn Trixie nicht da war. Manchmal glaubte sie sogar, daß ihr das noch lieber war. Dann konnte sie eher sie selbst sein. Sich entspannen. Die berauschende Atmosphäre in sich aufsaugen: Gesichtspuder, Parfüm, billiges Haarspray, eine Schale Rosen. Einmal hatte sie sogar Zigarettenrauch wahrgenommen. Dieses angenehme Potpourri aus Gerüchen in Verbindung mit jenem unterschwelligen süßen Duft des Verfalls schuf eine einschläfernde Ante-Bellum-Atmosphäre. Rosen waren verboten. Gartenblumen durften nur zu seltenen Gelegenheiten geschnitten und dann in Gemeinschaftsräumen aufgestellt werden, wo sich jeder an ihnen erfreuen konnte. Aber Trixie machte immer, was ihr paßte, und verließ sich auf den allgemein vorherrschenden Widerwillen, an anderen Kritik zu üben.
Janet zog eine Schublade heraus und gab vor, nach einem Wattebausch zu suchen. Sie berührte einen pfirsichfarbenen Satinslip, hauchdünne Strümpfe und ein paar Kleidungsstücke aus austernfarbenem Satin, die sie bei einer bestimmten Gelegenheit einmal Tarnschlüpfer getauft hatte. Heute würde sie dies nicht mehr laut wiederholen. In der zweiten Schublade lagen zwei Packungen Tampax und mehrere Halbschalen-büstenhalter aus Spitze.
»Das, was du suchst, wirst du da nicht finden.«
»Nein - wie dumm von mir.« Janets langes, knochiges Gesicht lief rot an, und sie ließ das fipsige Ding wie glühende Kohle fallen. »Ich habe vergessen, sie auf Arnos Liste zu schreiben.«
Eines Tages, fuhr es ihr durch den Kopf, wird sie mich - wenn ich mir Pflaster oder Taschentücher oder Sicherheitsnadeln ausborgen möchte - zur Rede stellen und sagen, sie wisse, daß ich mir in Wahrheit gar nichts ausborgen möchte. Daß ich nur hierherkomme, um die Luft zu atmen, die sie ausatmet. Oder um die Dinge zu berühren, die sie berührt.
»Ich komme einfach nicht über diese muskelbepackten Schultern weg.« Wann immer Trixie im Begriff war, eine Gemeinheit loszuwerden, schwang in ihrem Tonfall ein Hauch Erwartung mit. Diesen bestimmten Tonfall bemerkte Janet jetzt, und sie wappnete sich innerlich. »Ich frage mich, wie er im Bett ist.«