»Duft.« Das war keine Frage. Dantons Finger flogen über die geschliffenen Glaspfropfen der Flakons. »L’Egypte.«
Äußerst passend, fand Felicity. Schwer und oppressiv. Verschlossene Särge, vertrocknete Leichen, feuchte, abgestandene Luft. Er besprühte sie großzügig, drapierte vorsichtig ein nebelgraues Tuch über ihr Haar. »Ich werde Ihr Köfferchen nach unten tragen.«
Wohlwissend, daß jeder Einwand sinnlos war, hatte sie sich auf seinen Vorschlag eingelassen, einen Koffer mit Sachen zum Wechseln mitzunehmen, obgleich sie wußte, daß sie nicht über Nacht bleiben würde, und rechtzeitig veranlaßt hatte, daß der gemietete Wagen vor der Tür wartete, um ihr die Flucht zu erleichtern.
Danton kehrte zurück und stellte sich neben seine Kundin. Rückte ein letztes Mal ihre Ohrringe zurecht, zupfte noch einmal an ihren Locken. Felicity neigte den Kopf, als gewähre er ihr den coup de gräce.
»Machen Sie nicht so ein Gesicht, Mrs. G«, riet Danton. »Sie werden eine prima Zeit haben. Ich wünschte, ich könnte dabei-sein.« Auf der Straße hupte es. »Das wär’s dann.« Er steckte seinen Scheck weg und warf ihr mit der Theatralik eines Matadors den Umhang über die Schultern. »Rufen Sie mich nach Ihrer Rückkehr gleich an, und berichten Sie mir von dem außergewöhnlichen Abend. Ich kann kaum erwarten, von Ihnen zu hören.«
Exakt um fünf vor sieben fuhr der Corniche erneut auf der Auffahrt von Manor House vor. Wieder zog Guy an dem Eisenzug der Klingel. Diesmal unterliefen ihm keine Fehler. Sylvie - nein, Suhami, er durfte ihren neuen Namen nicht vergessen - hatte im Chartwell Grange angerufen, um ihn wissen zu lassen, daß der Meister ihn um sieben auf ein kurzes Gespräch vor dem Abendessen einlud.
Der Klang ihrer Stimme hatte ihn beflügelt. Er freute sich schon darauf, sie wiederzusehen, gierte nach einer Möglichkeit, die am Nachmittag entstandene Mißstimmung zu beheben. Aber behutsam, ganz behutsam... Er mußte sich langsam vortasten. Sich bemühen, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Seine Meinung für sich behalten. Das war kein leichtes Unterfangen, aber er würde es schaffen, denn er hatte sie wiedergefunden und durfte sie nicht noch mal verlieren.
In diesem Augenblick kam eine Feuersäule um die Ecke gebogen. Scharlachrote und orange Stofflagen bauschten sich flirrend, siedend, züngelnd auf. Sie wurden von einem mit bernsteinfarbenen Steinen besetzten Gürtel zusammengerafft. Die Feuersäule blieb stehen und richtete das Wort an ihn.
»Sie tragen nicht Indigo.«
»Ich trage niemals Indigo«, meinte Guy. »Was ist Indigo?«
»Das sollten Sie aber. Sie verfügen über ein hohes Maß an Aggression. Zuviel Rot.«
»Rot trage ich auch nie.« Na, die muß gerade was sagen, dachte Guy und spielte den Moderaten, als wäre die Unterhaltung schon aus dem Ruder gelaufen.
»In Ihrer Aura, meine ich. Sie glüht. Und hat ein Loch so groß wie eine Cantaloupe.«
»Ach... ach ja?«
»Ein ätherisches Leck darf nicht unterschätzt werden.«
Mit ernsthafter Miene öffnete May die Tür. »Es gibt auch eine Menge dunkler Flecken. Sie sind nicht zufälligerweise ein Geizkragen?«
»Bestimmt nicht«, erwiderte Guy spöttisch, während er ihr in die Halle folgte. Konnte man jemanden, der sich selbst einen Rolls-Royce-Corniche gönnte, als Geizkragen bezeichnen?
»Nun, mir fällt da eine bedenkliche Unausgeglichenheit auf, Mr. Gamelin. Zuviel einseitige Aktivität, wie ich vermute. Ich möchte Sie ja nicht aushorchen, aber falls Sie Wert auf weltlichen Erfolg legen -«
»Ich habe weltlichen Erfolg. Und mir fehlt nichts.« Einmal abgesehen von einer Tochter. Ab, Sylvie - meine große Unausgeglichenheit. Mein Leben.
»Ich bin zu Besuch -«
»Das weiß ich alles. Ich werde Ihnen den Weg zeigen. Hier entlang, bitte.« Schon stürmte sie davon. Guy hängte sich an ihre Fersen. Sie kamen an jener Tür vorbei, hinter der er nachmittags den verrückten Jungen entdeckt hatte.
»Bleiben Sie über Nacht?«
Guy murmelte etwas von einem Hotel.
»Ausgezeichnet. Morgen müssen Sie vorbeikommen und ein paar Fläschchen auswählen, und ich werde Sie auf den richtigen Weg bringen.«
Dessen war Guy sich nicht so sicher. Der Begriff »DarmSpülung« kam ihm in den Sinn. Er fragte, woraus eine Konsultation bei ihr bestand.
»Ich beginne mit den Chakras. Durchspüle sie richtig, reinige die Nadis. Danach versuche ich, mit einem von den großen Meistern in Verbindung zu treten. Meine Meisterin ist von unschätzbarem Wert. Sie ist ein erster Chohan des siebten Strahls, müssen Sie wissen.«
»Aber Ihr Meister ist doch schon hier«, sagte Guy und bemühte sich, keine Miene zu verziehen. »Könnten wir nicht einfach ihn um Rat fragen?«
Mays Reaktion verblüffte ihn sehr. Sie schien richtiggehend irritiert zu sein. Der Rhythmus ihres selbstbewußten Gangs war kurzzeitig unterbrochen.
»Oh, das wäre mir nicht möglich. Er ist... momentan erschöpft. Ist ihm in letzter Zeit nicht allzu gutgegangen.«
»Meine Tochter hat das gar nicht erwähnt.«
»Nicht?« May war vor einer geschnitzten Holztür stehengeblieben. Sie klopfte und wartete. Und dann - als habe sie eine Antwort erhalten, die Guy nicht hören konnte - stieß sie die Tür mit den Worten auf: »Mr. Gamelin ist hier, Meister«, und scheuchte ihn hinein.
Zuerst hatte Guy den Eindruck, in einen sehr großen Raum zu treten, doch er erkannte schnell, daß dies vor allem der spärlichen Möblierung zuzuschreiben war. Das farblose, leere Zimmer erinnerte ihn an japanische Räume. Die Negation eines Raums. Zwei Kissen lagen auf dem Boden. Neben dem Fenster standen ein Wandschirm und ein Holzrahmen, in den ein farbenprächtiges Stück Seide gespannt war.
Beneidenswert grazil erhob sich ein Mann von einem der Kissen und kam auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Guy blickte in so faszinierende Augen, daß es eine Minute dauerte, bis er der ganzen Erscheinung seine Aufmerksamkeit schenkte. Was er sah, beruhigte ihn auf der Stelle. Langes weißes Haar, ein blaues Gewand, Sandalen - alles zielte geradezu pathetisch darauf ab, eine spirituelle Wirkung zu erzielen. Wie die Zeichnung eines miesen Künstlers. Astroth: Meister des Universums. Guy schüttelte nachdrücklich die Hand seines Gegenübers und grinste.
Der Meister bot ihm an, sich zu setzen. Etwas schwerfällig ließ er sich auf dem Kissen nieder, mit geradem Rücken, die Hände hinter sich flach auf dem Boden liegend, die Beine gespreizt ausgestreckt. Während ihm diese unbequeme Haltung zuwider war, flößte ihm die dahinterstehende Strategie gleichzeitig Respekt ein. Bestimmt verfügte Craigie über konventionellere Sitzmöbel (niemand lebte in solch einer kargen Behausung), hatte aber absichtlich alles entfernen lassen, um seinen Gast in die Defensive zu drängen. Die Fakirversion der »Sieh-mal-wer-den-höchsten-Stuhl-innehat«-Methode. Es wird schon mehr als diese Mätzchen brauchen, Craigie. Guy warf seinem Gastgeber einen ermutigenden und herausfordernden Blick zu. Craigie lächelte und schwieg beharrlich.
Das Schweigen dauerte an. Zu Anfang löste es bei Guy eine gewisse Rastlosigkeit aus. Wie gewöhnlich schlug sein Verstand Kapriolen, entwarf ausgefuchste Schachzüge, spielte die unterschiedlichsten Strategien zur Vernichtung des anderen durch. Langsam, als die Sekunden und Minuten verstrichen, legte sich seine Aufregung, und etwas anderes trat an ihre Stelle. Er konnte noch immer seine bombastische innere Stimme hören, doch gedämpft, wie Kampflärm hinter einem fernen Hügel.
Normalerweise war Stille für Guy unerträglich. Er mochte das, was er »ein bißchen Leben« nannte, mit dem er gewöhnlich »ein bißchen Lärm« meinte. In diesem Fall übte die Stille eine sonderbare Wirkung auf ihn aus. Kam ihm wie eine beruhigende Umarmung vor. Am liebsten hätte er losgelassen. Sich einfach fallen lassen. Ihm war, als habe ihm jemand eine Last von den Schultern genommen, als würden alle Bewegungen angehalten. Er verspürte das Bedürfnis, diesen bemerkenswerten Zustand in Worte zu fassen, doch die Sprache, mit der man derlei Befindlichkeiten ausdrückte, hatte er nicht gelernt, und so blieb er einfach still sitzen. Dem Anschein nach bestand kein Grund zur Eile, und unwohl fühlte er sich auch nicht mehr.