In dem Raum hing das Licht der untergehenden Sonne. Die farbenfrohe Seide sah aus, als brenne sie lichterloh. Während 'Guy den gespannten Stoff betrachtete, verstärkte sich die Intensität der sirrenden Farben. Er bildete sich fast ein, daß sie lebten und vor Energie pulsierten. Da es ihm unmöglich war, den Blick von dieser strahlenden Transformation abzuwenden, fragte er sich, ob er hypnotisiert wurde. Just in diesem Augenblick ergriff der andere Mann das Wort.
»Ich freue mich sehr, daß Sie zu Besuch kommen konnten.«
Guy faßte sich, rang darum, sich auf sein Gegenüber zu konzentrieren, was ihm nicht leichtfiel. »Ich muß Ihnen dankbar sein. Dafür, daß Sie so freundlich zu meiner Tochter sind.«
»Sie ist ein äußerst angenehmes Mädchen. Wir alle sind ganz vernarrt in Suhami.«
»Ich habe mir große Sorgen gemacht, als sie verschwand.« Regel Nummer eins: Gesteh niemals deine Schwächen ein. »Nicht daß wir uns sehr nahegestanden hätten.« Regel Nummer zwei: Und auch nicht, daß du versagt hast.
Was war denn in ihn gefahren? Das hier war sein Gegner. Die Vaterfigur, die Sylvie über alles stellte. Guy bemühte sich, seine Eifersucht, seinen Rachedurst wieder anzukurbeln. Ohne diese Emotionen kam er sich nackt, entblößt vor. Er blickte in die strahlendblauen Augen und das ruhige ausdruckslose Gesicht. Links und rechts der spitzen, geraden Nase war die Haut etwas eingefallen. Halt dich daran fest. Der Kerl ist schrottreif. Mit einem Bein im Grab. Aber wie ist es um seine Kinnlinie bestellt? Das Kinn eines Soldaten. Das Kinn eines Soldaten im Gesicht eines Mönchs. Welche Rückschlüsse konnte er daraus ziehen? Was er damit anfangen sollte, wußte Guy nicht.
»Selbst in Familien, wo die einzelnen Mitglieder einander sehr nahestehen, lösen die jungen Menschen sich. Das ist eine äußerst schmerzhafte Erfahrung.«
Da war etwas an Craigies Präsenz, vielleicht die Tatsache, daß er sich so stark auf seinen Gesprächspartner konzentrierte, das nach einer Antwort verlangte. Guy sagte: »Schmerzhaft ist noch milde ausgedrückt.«
»Wunden können heilen.«
»Ach ja, meinen Sie? Glauben Sie tatsächlich, daß das möglich ist?«
Mit gefalteten Händen beugte sich Guy nach vorn. Und begann zu reden. Ein Schwall unglücklicher Erinnerungen strömte aus seinem Mund. Ströme der Reue. Fluten von Selbstbezichtigungen. Unablässig ging das so weiter, als gäbe es kein Ende. Entsetzt und angewidert lauschte Guy seinen eigenen Worten. Welch verabscheuungswürdige Fäulnis! Und dennoch - mit was für einer Leichtigkeit alles aus ihm rausfloß! Als hätten diese Wortströme jahrelang nur darauf gewartet, ihm über die Zunge zu kommen.
Am Ende war er total erschöpft. Sein Blick suchte Craigie, dessen Blick auf den Händen ruhte. Guy versuchte in der Miene des anderen zu lesen, die er als teilnahmsvolle Distanziertheit interpretierte, aber das konnte doch gar nicht'sein. Entweder man war teilnahmsvoll oder distanziert, aber gewiß nicht beides. Und schon gar nicht gleichzeitig. Eine kurze Weile saß Guy einfach so da, bis sein Verlangen nach einer wie auch immer gearteten Reaktion unerträglich wurde. Um die passenden Worte ringend, schob er eine Rechtfertigung nach:
»Ich habe ihr alles gegeben.«
Ian Craigie nickte zustimmend. »Das ist verständlich. Aber es funktioniert natürlich nicht.«
»Wollen Sie damit sagen, daß man Liebe nicht kaufen kann? Da haben Sie ganz recht. Ansonsten gäbe es keine einsamen Millionäre.«
»Ich wollte damit sagen, daß Dinge den Menschen nicht wahre Zufriedenheit schenken können, Mr. Gamelin. Sie haben kein Leben, das müssen Sie verstehen.«
»Ah.« Guy verstand gar nichts. Letztendlich ging es doch um nichts anderes als die Anhäufung und Zurschaustellung von Dingen. Woher sollten die anderen sonst wissen, was für ein Mensch man war? Und selbst ein ganz bodenständiger Mensch brauchte ein Haus, Essen, Wärme und Kleidung. Diese Meinung tat Guy auch kund.
»Selbstverständlich stimmt das. Aber es existiert eine vierte große Notwendigkeit, die wir gern vernachlässigen. Ich spreche von dem Verlangen nach Euphorie.« Er lächelte mit dem Wissen, daß das Wort für Guy eine ganz andere Bedeutung hatte. »Ich spreche von emotionaler und spiritueller Euphorie. Manchmal vermittelt das Theater uns eine Ahnung davon. Gelegentlich auch die Musik...«
»Das verstehe ich.« Guy entsann sich der vollgestopften Glasschluchten in der Stadt. Der dramatischen Riten der Durchquerung. Rauchiger Sitzungszimmer, Dolche, die unüberhörbar gezogen wurden. All das war unerhört euphorisch. »Ich begreife nicht, wie hier...« Mit einem Wedeln der Hand beendete er den Satz.
»Hier hängt unser Herz am Gebet. Außerdem haben wir uns dem Streben nach dem Guten verschrieben.«
Ein irritierender Anflug von Ironie. Guy haßte Ironie. In seinen Augen war sie eine Waffe, der sich Schwächlinge und Klugscheißer bedienten. »Sie hören sich an, als würden Sie das nicht ernst nehmen.«
»Die Herausforderung nehme ich sehr ernst. Aber nicht den Menschen. Oder nur sehr, sehr selten.«
Urplötzlich wurde Guy kalt, als wäre ihm die Quelle seines Wohlbehagens schlagartig entrissen worden. War dann die Wärme, das Verständnis, die Tatsache, daß er sein Leid einer intelligenten, zur Anteilnahme fähigen Person gestanden hatte, nur Illusion gewesen? Guy wurde zornig. Fühlte sich betrogen. »Das Streben nach dem Guten? Ich verstehe nicht ganz.«
»Nein. Abstraktionen sind immer schwer zu verstehen. Und gefährlich. Ich denke, die einfachste Möglichkeit, dies zu erklären, ist folgende: Wenn die Vorstellung, daß so etwas tatsächlich existiert... daß wir es vielleicht erfahren, spüren können ... wenn diese Vorstellung sich einmal durchgesetzt hat, dann läßt sie einen nie wieder in Ruhe.«
Guy dachte an seine alles verzehrende Liebe und verstand vollkommen.
»Wir verbringen hier natürlich viel Zeit damit zu straucheln, vom Weg abzukommen. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns nicht von unseren Mitmenschen.«
»Und dieses... Streben ist Ihrer Meinung nach das, was Sylvie sucht?«
»Davon ist sie momentan überzeugt. Ihre Meditationen haben ihr ein gewisses Maß an Zufriedenheit geschenkt. Aber sie ist noch sehr jung. Im Lauf unseres Lebens setzen wir viele unterschiedliche Masken auf. Und schließlich finden wir eine, die so gut paßt, daß wir sie nie mehr ablegen.«
»Ich habe nie eine Maske getragen.«
»Wirklich nicht?« Es klopfte an der Tür. Er rief: »Noch ein paar Minuten, May«, und wandte sich wieder an Guy. »Wir haben noch nicht über das eigentliche Problem, über das Erbe Ihrer Tochter gesprochen, was der eigentliche Grund für meine Einladung war.«
»Der McFadden-Treuhandfonds? Darüber spreche ich nicht mit Ihnen, Craigie.«
»Ihre Tochter will alles der Gemeinschaft vermachen.«
Guy stöhnte auf, woraufhin der Meister sich besorgt vorneigte. »Geht es Ihnen nicht gut, Mr. Gamelin?«
Guy hob das Gesicht. Seine Miene sprach Bände, verriet Benommenheit, Bestürzung. Ihm fiel die Kinnlade runter. Der Meister beobachtete diese bemitleidenswerte Reaktion und lächelte dann mit geschlossenem Mund. Nach ein paar Minuten fuhr er fort:
»Bitte, machen Sie sich keine Sorgen. Das Geld wird nicht akzeptiert werden. Wenigstens nicht in nächster Zeit. Ihre Tochter ist uns für unsere Zuneigung sehr dankbar, wie das bei Kindern, die keine Liebe erfahren haben, oftmals der Fall ist. Außerdem erinnert das Erbe sie an ihr früheres Unglücklichsein, weshalb sie den Entschluß gefaßt hat, sich davon zu befreien, wenn nicht hier, dann woanders. Ich hatte gehofft, mit Ihnen über dieses Anliegen sprechen zu können. Ich habe mich gefragt, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, mir das Vermögen pro forma zu übertragen, damit es nach außen hin so aussieht, als nähme ich es an, während es in Wirklichkeit irgendwo fest angelegt wird, vielleicht wenigstens für ein Jahr. Selbstverständlich besteht dann immer noch die Möglichkeit, daß sie das Vermögen weggeben möchte, aber laut meiner Erfahrung«, die Ironie wurde jetzt noch deutlicher, »wird sie am Ende nicht so handeln.«