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  Als Janet ihr berichtete, er habe sich zum Abendessen nicht umgezogen, gab Trixie sich der Hoffnung hin, daß er das Verschwinden seiner Pillen noch gar nicht bemerkt hatte. Und selbst wenn dem so war, wäre er dann bereit, Suhami mit einer weiteren Szene zu verprellen? Außerdem (und da beschloß sie, nach unten zu gehen), wer sollte sie daran hindern zu behaupten, sie wisse nichts von der Medizin? Niemand konnte ihr das Gegenteil beweisen. Wer sollte die unseligen Dinger finden? Schließlich hatte sie die Tabletten in blinder Panik aus dem Taxifenster geworfen. Jetzt befand sie sich im Speisesaal, nippte an dem erstklassigen Haferpflaumengebräu, musterte neidisch Felicitys Kleid und warf Guy ab und zu einen erwartungsvollen Blick zu. Irgendwann schaute er sie an. Sein Lächeln war so falsch, sein Winken so gekünstelt, daß sie wünschte, er hätte es gelassen.

  Christopher sprach. Erzählte ihnen von seinem letzten Auftrag (ein Dokumentarfilm über Afghanistan) und schilderte die endlose, problematische Durchquerung der Chagai-Berge. Genau in diesem Augenblick ertönte ein warmer, durchdringender Ton, der an ein Nebelhorn erinnerte.

  Heather sagte: »Die Meeresschnecke«, und wandte sich an Felicity mit dem freundlichen Zusatz: »Wir müssen gehen.«

  Inzwischen hatten Ken und Heather sich widerstrebend an Felicitys physische Gegenwart gewöhnt, legten ihr Eintreffen aber immer noch als geheimnisvoll, »vorbestimmt«, als Omen aus. Seit Mays Verschwinden hatte Heather das Ruder übernommen. Sie füllte Felicitys Becher (halb warme Ziegenmilch, halb Malztrunk) auf und erteilte mit überschwenglicher Herzensgüte diskret Ratschläge. Eine Mischung aus astrologischer Deutung und Hinweisen, wie man negative Schwingungen umwandelte. Felicity lauschte ihr mit der nichtssagenden Miene einer Schlafwandlerin und unterbrach sie nur einmal, um zu klatschen, als der Kuchen aufgetischt wurde.

  »Sie begleiten uns doch.« Heather half ihr beim Aufstehen.

  »Wohin?«

  »Wir gehen in den Solar. Sie werden den Meister kennenlernen. Wäre das nicht schön?«

  »Ja«, antwortete Felicity und strengte sich an, genau zu erkennen, wo der Tischrand war. »Werden wir auch tanzen?«

  »Ausgeflippt«, sagte Ken und nahm ihren anderen Arm. Ganz beiläufig bemerkte er: »Stell dir vor, wie viele Menschen in Bangladesch man mit dem Gegenwert für dieses Kleid satt kriegen könnte.«

  Die anderen waren schon im Begriff zu gehen. Trixie lachte schallend, plapperte laut und hängte sich bei der angenehm überraschten Janet ein. Suhami in Gesellschaft von Christopher, der ihre Tasche trug, und von Tim, der verzaubert in der Halle stehenblieb, zum Oberlicht hochschaute und sich weigerte weiterzugehen, bis Suhami ihm versprach, daß er später noch mal nach unten dürfe. Guy machte sich allein auf den Weg, nachdem man ihn für indiskutabel befunden hatte.

  Arno, dem das auffiel, unterdrückte seine natürliche Aversion, ging neben ihm her und stellte sich vor. Er streckte sogar die Hand aus, vermittelte gleichzeitig aber den Eindruck, diese Geste verlange ihm sehr viel ab. Sein Benehmen brachte Guy dazu, sich nach einem entsprungenem Löwen umzuschauen.

  Arno. Was für ein Name war das denn? Klang doch irgendwie komisch. Wie eine dieser weit draußen liegenden Inseln, die bei Wettervorhersagen für die Schiffahrt immer genannt wurden. Wind der Stärke 9 bei Ross, Arno und Cromarty. Guy ignorierte die ausgestreckte Hand und bemerkte kühclass="underline" »Sie haben Pudding im Bart.« Danach zog er - aufsässig wie immer - eine Zino Anniversaire, die Königin unter den Zigarren, hervor und zündete sie an.

  Der Solar lag am hinteren Ende der Galerie. Ein langer Raum mit hohen Deckenbalken und einem schwarzen Bitumenboden, auf dem in zwei akkuraten Reihen vierundzwanzig Kissen in losen, gebleichten Baumwollhüllen ausgelegt waren. Die beiden parallelen Reihen lenkten den Blick auf ein kleines, drei Stufen hohes Podest, das mit graubeiger Tweedauslegware bezogen war. Auf dem Podest stand ein Stuhl mit geschnitzter Rückenlehne. Neben den Beinen lagen verschiedene Objekte: das Meeresschneckengehäuse, ein kleiner Messinggong und ein großer, auf Hochglanz polierter Holzfisch, dessen Schuppen wie Karameltoffee glänzten. Die Dämmerung setzte ein, und jemand knipste die in einer tiefhängenden Papierlaterne versteckte Glühbirne an.

  Der Meister, ganz in Weiß, saß schon auf dem geschnitzten Stuhl. Tim sauste durch den Raum und hockte sich neben seine Füße. Die anderen nahmen entweder auf den Stufen Platz oder bauten sich hinter dem erhöht sitzenden Zauberer auf.

  Guy war sehr erleichtert, daß man nicht schon wieder von ihm erwartete, sich auf einem Kissen niederzulassen. Er warf Craigie einen Blick zu, der Felicity gerade mit einem milden, aber besorgten Lächeln begrüßte. Noch einmal bemerkte Guy die zerbrechliche Statur des Mannes, das lange weiße, bis auf die Schultern herabfallende Haar, und nun mußte er sich über seine Leichtgläubigkeit von vorhin wundern. Wie war es nur möglich gewesen, daß er - wenn auch nur kurz - einem derart offensichtlichen Poseur auf den Leim gegangen war? Nachdem alle einen Platz gefunden hatten, griff Craigie nach dem Fisch, riß dessen breiten Kiefer auf und ließ ihn mit einem lauten Kläcken einrasten, May tauchte in der Tür auf. Sie trug ein schlichtes malvefarbenes Leinengewand und hatte bis auf einen silbernen Einhornanhänger an einer Kette allen Schmuck abgelegt. Sie war barfuß. Das offene, frisch gebürstete Haar reichte ihr bis zur Taille. Langsam und sehr rhythmisch näherte sie sich den anderen. Aufrecht und mit geradem Rücken, als trage sie eine unsichtbare Amphore.

  Auf dem Boden, zwischen den hinteren sechs Kissen und gut drei Meter vom Podest entfernt, war eine Decke mit bunten Applikationen ausgebreitet worden. May legte sich dort nieder, setzte eine ernste Miene auf und faltete die Arme vor der Brust. Einen Augenblick später setzte sie sich wieder auf.

  »Um ehrlich zu sein, beim letzten Mal wurde mir in dem Wikingerboot ziemlich kalt. Dürfte ich vielleicht meine kleine Pelerine haben? Sie ist in meiner Tasche.«

  Auf dem Sockel griff Christopher nach unten.

  »Das ist meine«, sagte Suhami mit schneidender Stimme.

  »Selbstverständlich. Entschuldige.«

  »Drüben neben der Tür«, rief May.

  Christopher holte Mays Tasche. Im Gehen machte er sie auf und zog das cremefarbene, gerippte Cape heraus. »Ist es das hier?« Er drapierte ihr den Stoff um die Schultern.

  »Prima«, meinte May und machte den Verschluß zu. Dann legte sie sich wieder hin, schloß die dunklen Augen und begann tief zu atmen, stemmte diese atemberaubenden Halbkugeln unter ihrem Gewand in die Stratosphäre. Arno stöhnte verzaubert auf und war froh, als der Meister »Licht« rief und er zum Lichtschalter laufen durfte und kurzfristig abgelenkt wurde.

  »Soll ich hierbleiben, May?« fragte Christopher und berührte ihre linke Schulter. »Dann kann ich deine Hand halten, falls es brenzlig wird.«

  »Wenn du möchtest, aber ich komme auch so zurecht. Du weißt ja, man kehrt immer heil zurück.«

  Nachdem das Licht gelöscht war, sah alles ganz anders aus. In den grauen Schatten wirkten die reglosen Gestalten, als habe man ihnen ihre Menschlichkeit entzogen. Alle wirkten geheimnisvoll. Ihre Konturen verwischten wie bei Gartenstatuen in der Morgendämmerung. Mays Atem ging deutlich lauter. Tiefe, regelmäßige Seufzer in zunehmend längeren Intervallen.

  Auf des Meisters Frage hin, ob sie bereit sei, erwiderte May mit sonorer Stimme: »Ich bin soweit.« Daraufhin wurde sie gebeten, exakt das Zentrum ihres Seins zu bestimmen, und einige langsame und noch tiefere Atemzüge später legte sie die flache Hand auf ihren Bauch.

  »Wie siehst du dieses Zentrum?«

  »Eine Kugel... eine goldene Kugel.«

  »Kannst du die Kugel nach unten rollen? Nach unten... und durch deine Fußsohlen hinaus... so ist es richtig... schieb sie weg...« May grunzte leise. »Und jetzt wieder hoch, schieb sie nach oben...«