»Sie werden nie erraten, was sie heute morgen gesagt hat, Chief.«
»Wer?«
Wer...? Wer? Troy verschlug es die Sprache. Einen Moment lang brachte er kein Wort über die Lippen. Dann verriet er: »Talisa Leanne.«
»Hmm.«
War das womöglich ein Grunzen gewesen? Oder ein Hüsteln? Konnte auch ein Seufzer gewesen sein. Nur ein absolut vernarrter Vater legte so ein Geräusch als Ermutigung, als Aufforderung zum Weitersprechen aus.
»Sie hat gerade ihre Weetabix gegessen... nun, ich sage gegessen ... herumwerfen kommt wohl eher hin...« Troy lachte und schüttelte angesichts dieses Wunders den Kopf. »Ein bißchen landete auf ihrem Lätzchen... ein bißchen an der Wand... es gab sogar -«
»Jetzt kommen Sie mal auf den Punkt, Sergeant.«
»Wie bitte?«
»Was hat sie denn nun gesagt?«
»Oh. Ja. Nun - >Bally< hat sie gesagt.«
»Was?«
»Ball.«
»Ball?«
»So wahr ich hier sitze.«
»Herrje.«
Der Himmel war fast dunkel. Ein roter Streifen markierte den Horizont, als der Wagen in das Dorf rollte. Im stillen rechnete Barnaby damit, einen Krankenwagen auf der Zufahrt von Manor House vorzufinden, aber da parkten nur zwei Streifenwagen und George Bullards Volvo.
Kaum war Barnaby aus dem Wagen gestiegen, hörte er Geheul. Ohrenbetäubend laute Schmerzensschreie wie die eines in der Falle sitzenden Tieres. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter.
»Jesus!« Troy trat zu ihm auf die Veranda. »Was, verflucht noch mal, ist das?«
Ein in der Halle postierter Constable salutierte vor ihnen. »Alle sind oben, Sir. Auf der Galerie zu Ihrer Linken. Am hinteren Ende.«
Die Stufen erklimmend, schaute Troy sich um. Die erbärmlichen Schreie irritierten ihn so sehr, daß er diesmal - im Gegensatz zu sonst - nicht von jener vernichtenden Ablehnung heimgesucht wurde, die ihn immer überfiel, wenn er seiner Einschätzung nach einen Fuß in ein Haus der Oberschicht setzte. Er schnüffelte und befand: »Was für ein Gestank!«
»Räucherkerzen.«
»Riechen nach Katzenpisse.«
Schließlich fanden sie den Schauplatz des Verbrechens. Ein langgezogener, nur spärlich möblierter Raum. Kontrollierte, geschäftige Menschen bewegten sich leise und effizient. Ein Fotograf saß auf ein paar Stufen. An seinem Hals hing eine Pentax mit aufgesetztem Blitz. Ein zweiter Constable stand neben der Tür. Bei ihm erkundigte sich Barnaby, wer für dieses Gezeter verantwortlich war.
»Eine der Personen, die hier leben, Sir. Allem Anschein nach ist er nicht ganz zurechnungsfähig.«
»Na, das dürfte die ganze Angelegenheit doch etwas fröhlicher gestalten.« Barnaby schritt zum Podest hinüber und kniete sich neben den weißgewandeten Leichnam. Etwas Blut war aus der Brustwunde gesickert und bildete eine kleine Pfütze, einer frischgewaschenen Pflaume nicht unähnlich. »Und was haben wir hier, George?«
»Sie sehen es ja selbst«, meinte Doktor Bullard. »Einen Messerkünstler.«
»Sauber.« Barnaby inspizierte den Toten genauer und blickte dann in die Richtung, aus der das Geheul kam, das langsam zu einer Reihe gequälter Seufzer abschwoll. »Können Sie ihm nicht etwas geben? Das treibt einen ja in den Suff.«
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Soweit ich mir das zusammengereimt habe, bekommt er schon eine relativ komplizierte Medikamentenmischung verabreicht. Ist nicht klug, in so einem Fall noch was zu geben. Ich habe vorgeschlagen, ihren eigenen Arzt zu Rate zu ziehen, aber sie behaupten, keinen zu haben. Machen sie alles ganz allein, mit Mondschein und Kräutern.«
»Sie müssen doch einen Arzt haben. Woher kriegt er seine Medizin?«
»Hillingdon in Uxbridge.« Er stand auf und klopfte unnötigerweise seine Knie ab.
»War auf dem Weg ins Bett, nicht wahr, Doktor Bullard?« fragte Troy und zeigte auf den Leichnam. »In seinem Nachthemd.«
»Wie lange, George?«
»Höchstens eine Stunde. Diesmal sind Sie gar nicht darauf angewiesen, daß ich Ihnen das sage. Wie ich hörte, waren alle zugegen.«
»Wie bitte... Wollen Sie damit sagen, es war ein Versehen? Eine Art Unfall?«
Aus der Stimme des Chiefs hörte Troy eine Spur Enttäuschung heraus. Kurzzeitig fühlte Barnaby sich betrogen. In sich hineinschmunzelnd, senkte der Sergeant den Blick auf den Toten, musterte die faltigen, emotionslosen Gesichtszüge, die pergamentene Haut. Und die langen weißen Haare. Der Mann sah aus wie jemand aus den Zehn Geboten. Problemlos konnte man ihn sich als Moses vorstellen, wie er »Laß mein Volk ziehen« in die Wildnis schrie. Oder hieß es »kommen«? Troy und die Bibel standen sich nicht nahe. Barnaby unterhielt sich inzwischen mit Graham Arkwright, dem Mann, der den Tatort gesichert hatte. Troy spitzte die Ohren.
»... eine Menge, dem man nachgehen kann, fürchte ich. Das hier haben wir hinter dem Vorhang dort drüben entdeckt.« Er zeigte auf eine kleine Laibung und hielt eine Plastiktüte mit einem hellgelben Handschuh hoch. »Vielleicht entdecken wir was am Messer, da hängt eine Faser dran. Wissen Sie etwas über diese Kommune, Tom?« Barnaby schüttelte den Kopf.
»Meine Frau hat hier einen Webkurs besucht. Habe mir Ewigkeiten den Kopf zerbrochen, wie ich den Schal los Werde. Schließlich habe ich ihn jemandem auf dem Flohmarkt gegeben. Später tauchte das doofe Ding im Oxfam-Schaufenster auf. Meine Frau hat eine Woche lang nicht mit mir gesprochen.«
»Na, wenn das kein Ergebnis ist«, warf Troy ein.
Barnaby nahm den Handschuh und eine zweite Tüte, in der das Messer lag, und sagte: »Das hier werde ich später bei den Gerichtsmedizinern abgeben - okay?«
Es blitzte, und die beiden Beamten näherten sich den im Türrahmen stehenden Mann.
»Waren Sie als erster hier, Sergeant?«
»Ja, Sir. Traf zusammen mit dem Krankenwagen ein. War auf Streife mit meiner Kollegin Lynley. Habe den CID benachrichtigt und blieb hier bei der Leiche. Sie paßt unten auf die anderen auf. In dem großen Zimmer auf der anderen Seite der Halle.«
»Und welchen Eindruck machte die... ganze Truppe auf Sie?«
»Nun... sie reagierten so, wie man es erwarten würde. Standen alle rum und waren fassungslos. Einmal abgesehen von diesem retardierten Jungen, der sich die Seele aus dem Leib schreit. Ich fragte, ob jemand den Toten berührt habe, was sie verneinten. Tja, mehr habe ich nicht aus ihnen rausgekriegt.«
»Gut.« Barnaby stieg die Treppe hinunter. Troy, gertenschlank in seinem abgetragenen Lederblouson und seinen engen grauen Hosen, rannte voraus und riß erst zwei andere Türen auf, bis er die richtige fand.
Das relativ große Zimmer mit Holzdecke und holzverkleideten Wänden vermittelte einem den Eindruck, in einer großen geschnitzten Kiste eingesperrt zu sein. Es gab eine Menge Plastikschalensitze auf dünnen Metallbeinchen und eine nicht ordentlich geschrubbte Tafel. Ein Raum für Vorträge und Seminare.
Mit Ausnahme eines Mannes, der abseits vor dem französischen Fenster stand, hatten die Kommunenmitglieder sich zusammengeschart. Mit den geballten Fäusten in der Jackentasche vermittelte der Mann am Fenster den Eindruck, irritiert und wütend zu sein. Auf seiner linken Wange prangte ein langer, blutiger Striemen. Er kam Barnaby irgendwie bekannt vor.
Troy musterte die Polizistin (sie hatte die Dreißig längst hinter sich) und dann die anderen. Ein weinendes Mädchen in einem Sari wurde von einem Mann in Jeans getröstet. Ein jammernder Junge hatte seinen Kopf in den Schoß einer blaugekleideten Frau mit kühnen Gesichtszügen gelegt. Ein blondes Püppchen und eine graumelierte Frau mit harten Zügen in Kordhosen. Zwei fette, pathetisch wirkende Hippies, auf deren Stirn Steine funkelten, eine Frau in einem durchgeknallten Kleid, die kaum lebendiger wirkte als die Leiche im oberen Stockwerk. Und ein rundlicher kleiner Zwerg mit einem Bart in der Farbe von Tomatensoße.