Barnaby sagte: »Ich werde mich noch mal mit Ihnen unterhalten müssen, Mr. Gamelin. Morgen.«
Gamelin erwiderte nichts. Wesentlich beherrschter als bei seiner Ankunft, ging er zur Tür. Seine massigen Schultern waren eingefallen, sein Schritt verriet Müdigkeit. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte Troy: »Warum haben Sie ihn nicht verhaftet?«
Barnaby wartete auf die in diesem Fall übliche Rede. Fall abgeschlossen. Täter auf dem Tablett serviert. Ihm seine Rechte vorgelesen. Kurz und schmerzlos. Alles wie am Schnürchen gelaufen. Troy stand mit seiner Meinung allein da.
»Wir können ihn morgen früh auch noch abholen. Haben wir alle verhört, werden wir genauer wissen, wo wir stehen. Bislang basiert alles nur auf Indizien.«
Hinter dem Rücken seines Chefs schüttelte Troy ungläubig den Kopf. Ging es noch einfacher? Es war doch ganz klar, daß Gamelin behauptete, ihm wäre der Handschuh untergeschoben worden. Wer würde das nicht behaupten? Mann, o Mann, wenn die Sachlage nicht offensichtlich war! Gamelin hatte das Motiv und die Gelegenheit, das Messer an sich zu nehmen und es zu verwenden. Letztendlich hatte das Opfer auch noch mit dem Zeigefinger auf ihn gezeigt. Der Mann war fällig. Eine Sekunde lang fragte sich Troy, ob er sich getäuscht hatte, ob sein Boß sich nicht vielleicht doch von der verführerischen Macht des Geldes bezirzen ließ.
Barnaby murmelte etwas, sprach offenbar mit sich selbst, Troy spitzte die Ohren in dem Glauben, nicht richtig gehört zu haben. Irgendwas darüber, daß ihm Caliban leid täte.
Als ihm wieder einfiel, daß man ihn gebeten hatte, Wasser zu holen, entfernte er sich.
Nachdem der Sergeant zurückgekehrt war, wurde Arno vernommen. In sich zusammengesunken und nervös, saß er da und musterte den Chief Inspector aufmerksam. Auf die Bitte, eine Skizze anzufertigen, hatte er eine Reihe Strichmännchen gemalt - eins flach auf dem Rücken liegend, mit nach oben zeigenden Zehen, auf der Brust gefalteten Händen und einem »Smiley«-Gesicht. Barnaby hatte ihn zu seiner Rolle in der Kommune befragt. Dabei war ihm aufgefallen, wie aufgeregt sein Gegenüber war. Für einen Moment trat der eigentliche ‘ Grund des Verhörs in den Hintergrund.
»Sagen Sie, Mr. Gibbs, was wird Ihrer Meinung nach nun hier geschehen? Beispielsweise mit Manor House?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Arno klang ziemlich melancholisch. Er schämte sich einzugestehen (auch ' vor sich selbst), daß er - nachdem er den bestürzenden Verlust einigermaßen verdaut hatte - nur noch daran gedacht hatte, wie seine eigene Zukunft aussehen würde. Was würde er machen, wenn sich die Kommune auflöste? Wer würde sich um Tim kümmern? Und - noch weitaus wichtiger - wie um alles in der Welt sollte er ohne die unerschütterliche und erhabene Gegenwart seiner großen Liebe überleben? Ohne diesen strahlenden Blick, der ihm jedes Erwachen verschönte, den Sonnenuntergang versüßte, war sein eigenes Leben kaum mehr ' lebenswert.
»Haben Sie eine Ahnung, wer dieses Anwesen erben wird?«
»Nein. Ich glaube, das weiß niemand. Irgendwie ist nie die Sprache darauf gekommen.«
»Mußten sich die Mitglieder in die Organisation einkaufen? Anteile erwerben - etwas in der Art?«
»Nein. Wir tragen uns selbst. Die Lodge erzielt Gewinne aus den Kursen und Workshops. Wir hatten vor, uns um die Bewilligung eines karitativen Status zu bemühen. Beabsichtigten, eine Stiftung zu werden, aber...« Niedergeschlagen zuckte er mit den Schultern.
»Wußten Sie von Miss Gamelins Geschenk an die Kommune?«
»Nein, aber jetzt weiß ich davon - alle reden darüber.«
»Und heute abend...« Arno wappnete sich. »Was hat sich Ihrer Meinung nach zugetragen?«
»Herrje - ich weiß es nicht. Es war so schrecklich... so verwirrend ... In der einen Minute führte er - der Meister - May durch die Rückführung -«
»Sie meinen verbal?« unterbrach Barnaby ihn.
»Ja.«
»Davon hören wir zum ersten Mal«, gab Troy mit ernster Miene zu bedenken, woraufhin Arno so geknickt wirkte, als habe er das zu verantworten. »Wie funktioniert das?«
»Er stellt Fragen - was siehst du jetzt? Wo bist du? So in der Art. Und May antwortet. Dieses Mal kehrte sie ins römische Britannien zurück. Er fragte sie, ob sie etwas beschreiben könne, und daraufhin erzählte sie uns von dem Zelt. Ich denke, das war das letzte Mal, daß er sprach. Kurz danach fing sie an, die allergräßlichsten Geräusche auszustoßen. Da liefen wir natürlich alle zu ihr, um nachzusehen, ob es ihr gutging.«
»Wieso >natürlich<, Mr. Gibbs?« wollte Troy erfahren. »Man hat uns zu verstehen gegeben, daß solche Reaktionen nicht ungewöhnlich sind.«
»Oh, aber so schlimm ist es bisher noch nie gewesen. Doch sie wird weitermachen. Sie ist sehr, sehr tapfer und hat einen unstillbaren Wissensdurst.«
Als Troy ein leichtes Tremolo und die plötzliche emotionale Ergriffenheit des Rotbarts auffiel, dachte er: Na, wenn da nicht was im Gange ist, schlägt’s dreizehn. Wüßten Verliebte mittleren Alters, wie grotesk sie wirkten, würden sie sich mit etwas passenderem beschäftigen. Sich beispielsweise im Park entblößen.
»Wir wurden darauf vorbereitet, daß sich heute etwas Besonderes ereignen würde. Ken - aus dem manchmal Zadekiel Spricht - wies darauf hin, daß die freigesetzte kosmische Energie beträchtlich war. Sie müssen jemanden schicken, wissen Sie, der Karmische Ausschuß, wenn ein großer Meister von einer physischen Oktave geholt wird. Unglücklicherweise sind wir uns dessen zu spät bewußt geworden. Die anderen glaubten, sie hätten Astarte, die Mondgöttin, geschickt, in Gestalt von Mrs. Gamelin. Ich hingegen bin davon überzeugt, daß Mays Unfall ein Omen war -«
»Ja, Mr. Gibbs. Von ihrem Unfall hat sie uns berichtet«, sagte Barnaby.
»Oh. Entschuldigung.« Mit einem Blick auf beide Männer sagte Arno: »Ich muß schon sagen, Sie nehmen den Vorfall anscheinend auf die leichte Schulter.«
»Wir haben einen Mord, auf den wir uns konzentrieren müssen«, meinte Troy. »Sind Sie der Ansicht, daß Craigie kurz vor seinem Ableben auf Guy Gamelin gezeigt hat?«
Arno zögerte. »Tja... wissen Sie... man äußert ja nicht gern etwas, das ein schlechtes Licht... aber... ja. Den Eindruck hatte ich. Damit möchte ich keineswegs sagen, daß die Geste eine Art Beschuldigung darstellte.«
»Worauf sonst verschwendet ein sterbender Mann Ihrer Meinung nach die letzten Sekunden seines Lebens?« hakte Troy nach.
Die Frage verstörte Arno sehr. Seine Irritation verstärkte sich noch, als Barnaby sagte: »Wir werden uns mit diesem zurückgebliebenen Jungen unterhalten müssen, fürchte ich. Soweit ich weiß, wissen Sie über seinen Hintergrund Bescheid.«
»Oh, das dürfen Sie nicht! Er ist sehr verschlossen, kann sich nicht richtig ausdrücken. Das wäre reine Zeitverschwendung.«
»Nichtsdestotrotz ist er ein Zeuge, Mr. Gibbs.« Barnaby warf einen raschen Blick auf seine Skizzen. »Außerdem saß er direkt zu Craigies Füßen. Näher bei ihm als alle anderen. Er muß etwas gesehen haben.«
»Er schläft. Bitte, stören Sie ihn nicht.« Arnos sommersprossige Haut war mit einem dünnen Schweißfilm überzogen. »Für ihn ist eine Welt zusammengebrochen.«
»Na, gut, dann eben morgen früh.« Da Arnos Erregung deutlich spürbar war, schob Barnaby nach: »Wir sind keine Monster, wissen Sie?«
»Gewiß nicht. Ich hatte nicht vor, anzudeuten... oh Gott. Könnte ich dabeisein?«
»Wenn wir Geisteskranke verhören, ist das Vorschrift, Mr. Gibbs. Sollten Sie der Meinung sein, in diesem Fall die richtige Person zu sein, habe ich nichts dagegen einzuwenden.«