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  »Oh -« Ihre Miene veränderte sich schlagartig. Urplötzlich gab sie sich derart devot, daß sie beinah dumm wirkte. »Selbstverständlich bin ich eine Gläubige. Nur reicht mein Glauben nicht ganz so weit wie bei den anderen.«

  Wenn du eine Gläubige bist, fuhr es Barnaby durch den Kopf, als er die spitzen Brüste, die feuchten Lippen und den tiefen Ausschnitt betrachtete, dann bin ich Joan Collins. Jetzt redete sie wieder über Gamelin.

  »Ist er... ähm... immer noch hier?« Da Barnaby sich mit ein paar Papieren beschäftigte und nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Wir müssen wissen, verstehen Sie... ob jemand über Nacht bleibt.« Wieder eine Pause. »Ob wir ein Bett herrichten müssen... und wie das mit der Verpflegung aussieht...«

  Langsam tat sie dem Inspector leid. »Ich glaube, Mr. Gamelin ist in sein Hotel zurückgekehrt.«

  »Sie haben ihn gehen lassen!«

  »Darüber würde ich mir nicht den Kopf zerbrechen«, warf Troy ein. »Wir behalten ihn im Auge. Wir behalten alle im Auge.«

  Die Meinung vertretend, daß es unsinnig sei, fertigte Trixie eine Skizze an, ehe Barnaby sie gehen ließ. Hinterher sagte Troy: »Eine besorgte junge Dame, Sir.«

  »Sie verbirgt etwas, soviel ist sicher. Wainwright und Gibbs auch. Wenn ich auf den Mord anspiele, rückt niemand mit der Sprache heraus. Warum nicht?«

  »Verhaltenskodex, würde ich sagen.«

  »Es ist Gamelin, der ihr zusetzt. Behauptet, ihn vorher noch nie getroffen zu haben, kann es aber nicht erwarten, ihm hinten und vorn einen Apfel reinzustopfen, ihn zusammenzunähen und in den Ofen zu schieben. Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen«, sagte er, erhob sich und bewegte sich steifbeinig, »wenn mich jemand auf eine falsche Fährte lockt.«

  »Werden Sie ihn sich morgen früh noch mal vornehmen?«

  »O ja. Wir werden ihn aufs Revier bringen, denke ich. In der Zwischenzeit - liefern Sie das hier auf Ihrem Heimweg bei der forensischen Abteilung ab.«

  Troy nahm die beiden Plastiktüten. Das Labor lag nicht auf seinem Heimweg, aber wenn es schon auf jemandes Heimweg lag, dann eher auf dem des Chief Inspectors als auf dem des Sergeants...

  Mit einem »Geht in Ordnung, Sir« drückte er sie dem jungen Constable mit dem fedrigen Schnurrbärtchen in die Hand und griff dankbar nach seiner fünften Zigarette.

  Guy ließ sich in den breiten, tiefen Sessel vor dem Fernsehaparat fallen. Er hatte sich ausgezogen, aber nicht gebadet, hatte seinen Anwalt angerufen, aber darauf verzichtet, sich die Zähne zu putzen. Er trug Boxershorts, Socken und ein verschwitztes, aufgeknöpftes Hemd. Die Manschettenknöpfe Waren herausgenommen, die Manschetten hingen lose an den Armen herunter, fielen auf seine Handrücken.

  Sein Körper bewegte sich keinen Zentimeter, einmal abgesehen von den sporadischen Griffen nach dem frischgefüllten Eiskübel. Sein Verstand hingegen arbeitete auf Hochtouren. Er fühlte sich leicht kränklich. Ob dies seiner Trunkenheit zuzuschreiben war (die gegen Mittag georderte Whiskyflasche war fast leer) oder der düsteren, brodelnden Dunkelheit in seinem Kopf, wußte er nicht zu sagen. Nicht, daß es ihn interessiert hätte.

  Seine Gedanken kreisten ausschließlich um Sylvie. Ihm ging nicht aus dem Kopf, daß sie ihm am nächsten gewesen war, als sich alle über May gebeugt hatten. Links von ihm, auf der gefährlichen Seite. Dort, wo der Handschuh gefunden worden war. Unter ihrem fließenden Gewand hätte sie Handschuh und Messer problemlos verstecken können. Dies und das Wissen, daß er nur ihretwegen anwesend gewesen war, mündeten in die schmerzhafte Schlußfolgerung, daß man ihm eine Falle gestellt hatte. Obgleich Guy sich bei seiner alkoholvernebelten, morbiden Introspektion gegen diese Interpretation der Fakten wehrte, gelang es ihm nicht, sie wirklich ad acta zu legen. Vor lauter Nachdenken bekam er Kopfschmerzen. Seine Hals- und Schultermuskeln waren hart wie Stahl. Je länger er sich den Kopf zerbrach, desto logischer erschienen die Rückschlüsse, die er zog.

  Sie erklärten, warum sie ihn in die Küche gelockt und dort allein gelassen hatte - damit er mühelos Zugang zu dem Messer und dem Handschuh erhielt. Am meisten setzte ihm zu, daß sie ihn umgehend beschuldigt hatte. Innerhalb jener ersten höllischen Sekunden, nachdem das Licht eingeschaltet worden war und sie alle reglos und ungläubig Zusehen mußten, wie die weißgekleidete Gestalt zu Boden sank, hatte Sylvie sich zu ihrem Vater umgedreht und gerufen: »Du... du...«, ehe sie ihm eine Ohrfeige verpaßte. Ihre Nägel hatten Kratzer auf seiner Wange hinterlassen.

  Jemand hatte sie zurückgehalten. Guy war zurückgewichen, hatte sich in die Rolle eines Parias geflüchtet, bis die Polizei ihn verhörte. Wann war ihm zum ersten Mal dieser Verdacht gekommen? Seufzend streckte Guy die Hand nach dem Eis aus, tauchte sein Glas in den Behälter, füllte es auf, schüttete Whisky über die Würfel. Ein paar Spritzer landeten im Kübel, ein paar auf dem Tablett. Das ganze Zimmer stank nach diesem torfigen, holzigen Geruch. Mit zwei Schlucken leerte er das Glas.

  Zu der schrecklichen Vermutung, daß seine Tochter ihn verstoßen hatte, gesellten sich Irritation über und Abneigung gegen den Verstorbenen. Eigentlich war geplant gewesen, daß sie sich noch mal unterhielten. An diesem zweiten Gespräch hatte Guy viel gelegen. Weder Craigies Haltung noch seine Worte hatten einen Hinweis darauf gegeben, daß Guy nicht als Gewinner aus dem ersten Gespräch hervorgegangen war. Das ’Wissen, verloren zu haben, setzte ihm jetzt gehörig zu. Ihm kam es so vor, als hätte er den Eindruck eines Mannes erweckt, der sein übersteigertes Ego nicht kontrollieren kann. In Wirklichkeit hatte er mehr drauf. Schließlich hatte das Leben ihn zu dem gemacht, was er war. Niemand, der es nicht selbst erlebt hatte, wußte, was es hieß, sich aus der Gosse emporzuarbeiten.

  Keiner wußte um die Energie, die Entschlossenheit, die Kosten, die solch eine Transformation erforderten. Einen Augenblick der Schwäche, und schon lag man wieder im Dreck und bekam Dutzende von Fußtritten ab. Hätte er die Chance gehabt, Craigie davon zu erzählen...

  Guy erinnerte sich an die Ruhe in jenem leeren, stillen Raum. Daß es ihm kurze Zeit vergönnt gewesen war, die Bürde abzulegen, der große Guy Gamelin zu sein. Eine Bürde, von der er bis dahin nicht gewußt hatte, daß er sie trug. Falls er zurückging, falls man es ihm erlaubte, dorthin zurückzukehren, würde dort immer noch diese Stille herrschen? Vermochte sie wirklich Heilung zu bringen?

  Als diese Fragen ihm durch den Kopf gingen, erboste ihn die damit verbundene Leichtgläubigkeit. Craigie war ein Betrüger, richtig? Richtig. Ein Gauner, der mit Hilfe von Seide und Licht eine Nummer abzog. Vergiß das nicht.

  »Vergiß das nicht.« Heftig nickend tauchte Guy sein Glas wieder in den Eiskübel und schraubte die Whiskyflasche auf.

  Auf der Suche nach Ablenkung schaltete er den Fernseher ein und riß die Augen auf, um die verschwommenen Gestalten auf der Mattscheibe besser erkennen, voneinander unterscheiden zu können. Eine Frau, die abwusch, ein kleines Mädchen mit glänzendem Haar, das neben ihr auf einer Kiste stand.

  Ganz ernsthaft diskutierten sie über Fettreste. Die Frau zeigte ein gekünsteltes, mütterliches Lächeln und tupfte etwas Schaum auf die Nase des Mädchens. Guy wechselte den Kanal, aber der Schaden war angerichtet.

  Wieder aufflammende Entbehrung ergriff sein Herz. Letzten Endes begriff er, daß es tatsächlich zu spät war. Daß er all die Jahre nicht seine Tochter gewollt hatte - diese erwachsene Fremde -, sondern das Kind, das sie früher einmal gewesen war. Fleisch von seinem Fleisch. Die unerträgliche Hoffnungslosigkeit seines Wunsches überwältigte ihn. Schmerz entstellte seine Miene.

  Sein Blick fiel auf sein Spiegelbild auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Auf die Fettringe, die über den Unterhosenbund quollen, auf das nasse, plattgedrückte Brusthaar, auf dieses rote, teigige, verschwitzte Gesicht, auf die Whiskyflecken auf seinem Hemd. Angesichts dieser grobschlächtigen und widerwärtigen Kreatur bemächtigte sich starke Übelkeit seiner Eingeweide. Schlagartig spürte er eine entsetzliche Hitze. Guy preßte den Kopf zwischen die Knie.