Das Zimmer schwankte, neigte sich erst auf die eine, dann auf die andere Seite. Er setzte sich wieder aufrecht hin und klammerte sich an der verzierten Armlehne fest. Ihm ging es nicht gut. Sich abstützend, kam er schwerfällig auf die Beine und bewegte sich in Richtung Badezimmer. Auf halber Strecke spürte er einen erstaunlich heftigen Stich in seiner Brust, als reiße ihm jemand den Brustkorb mit einer Spitzhacke auf. Schreiend und taumelnd hielt er inne und schaute sich um.
Die Tabletten waren in seiner Jacke. Guy bewegte sich langsam, setzte einen Fuß vor den anderen. Seine Beine waren unbewegliche Säulen aus Marmor. Einen Schritt weiter warf ihn der zweite Stich um. Auf dem Rücken liegend, harrte er aus, bis das Schlimmste vorbei war. Ein paar Minuten stützte er sich auf einen Ellbogen und streckte den anderen Arm nach dem Tisch aus. Er erwischte den Rand der Obstschale.
Verschob eine kleine Karte. Äpfel und Orangen, Trauben und Bananen fielen auf sein Gesicht und dann zu Boden. Unmöglich, es noch mal zu versuchen. Mit voller Wucht kehrte der Schmerz zurück. Guy ließ sich auf den Teppich fallen und von ihm verschlingen.
EINE LÜGE MIT EHRENWERTER ABSICHT
9
Um halb neun am nächsten Morgen saß Barnaby an seinem Schreibtisch, stöberte herum, dachte nach und sah die vielen unterschiedlichen Aussagen und Skizzen durch. Keine der Zeichnungen war vollständig, und doch schien jeder zu wisSen, wo er selbst und seine unmittelbaren Nachbarn gestanden hatten. Mit Hilfe dieser Hinweise hatte Barnaby eine große, komplette Skizze angefertigt, die nun an der Wand hing.
Er studierte sie gerade, als die Tür aufging und eine blasse, gespenstische Gestalt mit schwarzumrandeten Pandaaugen 's und einem Tablett in der Hand auftauchte.
»Ist das mein Tee? Wurde ja auch Zeit.«
Barnaby hatte nur fünf Stunden geschlafen. Da er gewöhnlich nie mehr als sechs Stunden Schlaf brauchte, war er in ausgezeichneter Form. Troy war gegen drei Uhr nachts ins Bett gegangen. Das Baby hatte ihn um vier geweckt und bis halb acht immer mal wieder geweint. Um diese Uhrzeit war der Vater aufgestanden und hatte sich angezogen, während die Kleine sanft eingeschlummert war. Das ging nun schon seit einer Woche so. Solch ein Grad an Rachsüchtigkeit bei einem so jungen Wesen machte Troy Kopfzerbrechen. Er reichte ' Barnaby seinen Tee, süßte seinen eigenen mit drei Stücken Würfelzucker, rührte um und trank einen Schluck und verzog das Gesicht. »Kein Zucker.«
»Neulich sagten Sie, Sie möchten Ihren Zuckerkonsum reduzieren.«
»Aber doch nicht auf Null.« Troy brachte die Zuckerdose. Der Chief Inspector bediente sich großzügig und grinste dabei seinen Sergeant an. »Ach - das Glück der Vaterschaft.«
»Sie ist wunderbar. Wunderschön. Aber...«
»Nur nicht mitten in der Nacht. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern.« Er und Joyce hatten sich abgewechselt, als Cully mit den Dreimonatskoliken zu kämpfen hatte. Er fragte sich, ob Maureen auch mit Hilfe rechnen durfte.
»Ich denke, irgendwann werde ich trotzdem durchschlafen können.«
»Das denke ich auch, Gavin.«
Ermutigt von der Stimme der Erfahrung und vom stark gesüßten Tee zu neuem Leben erweckt, studierte Troy die Zeichnung seines Chefs.
»Das wäre es dann also?«
»Ja. Ob und wie wichtig all diese Positionen sind, kann ich noch nicht sagen. Wir werden uns wieder damit beschäftigen, sobald wir den Bericht der Gerichtsmediziner haben. Dann kennen wir den Winkel, mit dem das Messer geführt wurde, und all das.«
»Darüber habe ich mir so meine Gedanken gemacht, Sir.« Mit dem Löffel kratzte Troy den aufgelösten Zuckersatz aus seiner Tasse. »Das Ding war ziemlich lang und spitz. Selbst wenn man es am Körper tragen kann, dürfte sich der Betreffende meiner Meinung nach weder sicher noch bequem gefühlt haben. Ich frage mich, ob es nicht von vornherein im Solar versteckt wurde.«
»Ist wohl nicht gerade das passende Versteck. Und es hätte später auch wieder leicht erreichbar sein müssen.«
»Ich dachte an die Kissen.«
»Wäre ein Risiko gewesen, oder? Weil vielleicht jemand draufsitzt.«
»Es sei denn, man setzt sich eben selbst drauf.«
»Was nicht der Fall gewesen ist.«
»Stimmt, stimmt.« Troy war noch nicht geneigt, seiner Theorie abzuschwören. Er schlenderte zum Fenster hinüber. Es zuckte ihm in den Fingern, so sehr verlangte es ihn nach einer Kippe nach dem Tee. In der Hoffnung auf Ablenkung warf er einen Blick nach draußen. »Natürlich würde das bedeuten, daß Gamelin schon vorher wußte, wo die Rückführung stattfindet. Dazu könnten wir ihn nachher doch befragen.«
Barnaby, der den Stapel Aussagen überflog, antwortete nicht. Gerade als er seine Tasse aufs Tablett zurückstellen wollte, erregte ein Wagen auf dem Besucherparkplatz Troys Aufmerksamkeit. »Sieh an, wenn da nicht jemand klug investiertes Geld parkt.«
Erfreut über die Möglichkeit, seine Beine zu bewegen, trat Barnaby neben seinen Sergeant. Ein atemberaubender Bentley in der Farbe von bitterer Schokolade stand unten auf dem engen Parkplatz. Etwas umständlich stieg ein Mann aus und ging auf das Hauptgebäude zu. Während Barnaby zusah, wie der Autobesitzer langsam und erhaben über den Platz schritt, dachte er, daß es einen erstklassigen Schneider brauchte, um einen Wanst wie diesen distinguiert und nicht abstoßend aussehen zu lassen.
»Wer, verdammt noch mal, könnte das sein?«
»Ich habe da so eine vage Vermutung.«
Kurz darauf tauchte ein Constable aus dem Hauptgebäude mit einer unerhört schlichten, teuren Visitenkarte in der Hand auf, die Barnaby laut las: »Sir Willoughby St. John Greatorex. Gut, Troy - dann holen Sie ihn mal rein.«
Der CID war in einem eigenen Gebäude untergebracht, das durch einen hohen, verglasten Übergang mit dem Hauptgebäude verbunden war. Um zum CID zu gelangen, mußte man eine ganz schöne Strecke zurücklegen, die jedoch nicht so lang war, wie Troy sie erscheinen ließ. Zuerst führte er Sir Willoughby durch die Abteilung für Verkehrsdelikte und dann zwei Treppen hoch. Er gab ein schnelles Tempo vor. Endlich in Barnabys Büro angekommen, schnappte der gutgenährte Herr nach Luft. Ohne eine Miene zu verziehen, meldete Troy ihn an und blickte dann vielsagend zur Decke hoch. Barnaby stellte sich vor und bot Kaffee an. Sir Willoughby tupfte seine Stirn mit einem seidenen Paisleytaschentuch ab und schlug das Angebot aus.
»Er ist sehr gut.«
»Das glaube ich gern, Chief Inspector. Unglücklicherweise darf ich nur noch eine Tasse pro Tag trinken, die ich mir heute schon drei Mal gegönnt habe.«
Der unter Magenverstimmungen leidende Barnaby nickte nicht ganz teilnahmslos. Seine Magenprobleme waren nichts anderes als die durchaus nachvollziehbare Reaktion auf schlichte Hausmannskost und fettiges, fritiertes Kantinenessen, wovon er sich jahrelang ernährt hatte. Er vermutete, daß Greatorex’ Magen und Darmtrakt nach jahrelangem Konsum superber Geschäftsessen und Dinners, auf denen päte de foie gras mit einem Glas Margaux gereicht wurde, ihm den Dienst versagten.
Sir Willoughby verfügte wirklich über eine beeindruckende Statur. Sein Anblick ließ einen unweigerlich an eine riesige tweedüberzogene Birne denken. Alles an ihm hing herunter. Die Nase, die Wangen, die faltigen Tränensäcke. Selbst seine Ohrläppchen erweckten den Anschein, beim leisesten Windstoß zu tanzen. Der Mann meldete sich wieder zu Wort.