»Andererseits kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, einen längeren und relativ unerfreulichen Vortrag vor mir zu haben, und daher dürfte es wohl kaum schaden, wenn ich noch ein weiteres Mal über die Stränge schlage.«
Keine Disziplin, diese Leute, monierte Troy und zog los, um das gewünschte Gebräu zu besorgen. Kein Funken Selbstbeherrschung.
Kurze Zeit später nippte Sir Willoughby vornehm an seinem Kaffee und fragte: »Vielleicht können Sie mir erklären, wie genau die Situation hinsichtlich Mr. Gamelin aussieht. Der Anruf, den ich gestern erhielt, war etwas inkohärent.«
Welch ausgeprägtes Taktgefühl! Barnaby stellte sich die Flüche und das bellende Gezeter vor, das aus dem Greatorex -Hörer geschallt hatte. Zweifellos würde Greatorex bei der Rechnungsstellung derlei Dinge berücksichtigen. Detailliert schilderte er den Stand der Dinge.
Sir Willoughby lauschte den Ausführungen des Mannes, der ihm erst vor kurzem als »ein aufsässiger Mistkerl mit einem Gesicht wie ein Rindersteak« beschrieben worden war. Geduldig legte er seine langen, verblüffend schmalen Finger auf die in eleganten Stoff gehüllten Beine, stöhnte auf und stellte seine fast volle Tasse auf den Schreibtisch des Inspectors. Sich an Troy wendend, fragte Willoughby: »Könnte ich möglicherweise ein Glas Wasser bekommen?«
Perverserweise setzte die Höflichkeit des Mannes dem Sergeant mehr zu als eine herablassende Behandlung. Er schwor sich, daß ihm niemals die Worte »Sir Willoughby« über die Lippen kommen würden. Und auch kein einfaches »Sir«, mit dem die meisten Erwachsenen Personen männlichen Geschlechts anredeten. »In Ordnung...« murmelnd, verließ er das Büro.
»Falls ich richtig verstanden habe«, sagte Sir Willoughby, »als ich mich vergangenen Abend mit Mr. Gamelin über die Angelegenheit unterhalten habe, wird er offiziell beschuldigt.« (»Die Mistkerle haben mich bei den Eiern, Will.«)
»Das ist nicht der Fall, aber wir werden ihn heute morgen noch mal vernehmen. Als Mr. Gamelins Anwalt -«
»Bitte.« Sir Willoughby hob abwehrend die Hände. »Ich bin der Anwalt der McFaddens und in erster Linie erschienen, um Mrs. Gamelin den Rücken zu stärken und sie zu schützen.«
Für einen flüchtigen Augenblick tat Gamelin Barnaby leid. Der arme Tropf hatte garantiert die Hosen bis zu den Knöcheln runterlassen müssen, um einen Fuß in diesen kleinen, exklusiven Familienclan zu kriegen. Das Wasser wurde gebracht. Troy stellte es auf die gegenüberliegende Schreibtischecke und trat ans Fenster.
Barnaby fuhr fort: »- sind Sie herzlich eingeladen, zugegen zu sein.«
Das Angebot entsprang nicht purer Höflichkeit. Die Anwesenheit eines Anwalts sicherte die vorschriftsmäßige Handhabung des Verfahrens. Ersparte einem unnötige Probleme, sollte der Fall jemals vor Gericht kommen. Mit einem Lächeln streckte Sir Willoughby die Hand nach dem Wasserglas aus, trank einen Schluck und setzte erneut zu einer ambivalenten Handbewegung an, die - je nach Auslegung - nichts, alles oder beides gleichzeitig andeuten konnte.
Die werden ihn den Wölfen zum Fraß vorwerfen, zählte Barnaby zwei und zwei zusammen. Er beschloß, Sir Willoughby zum Telefongespräch vom vergangenen Abend zu befragen. Für gewöhnlich war die Befragung des Anwaltes eines potentiellen Verdächtigen ungefähr so sinnvoll wie Mäusemelken und führte in etwa zum selben Ergebnis. Sir Willoughby hingegen zog die Bitte ernsthaft in Erwägung.
»Nun, es war ziemlich laut. Ein Handschuh wurde erwähnt. Das Essen und die Gesellschaft wurden mir ausführlich beschrieben. Selbstverständlich auch der Mord. Und mir war noch ein längerer Vortrag über seine Tochter vergönnt.«
»Was sagte er über den Mord?«
»Nur, daß er nichts damit zu tun hätte.«
»Hat er den Treuhandfonds erwähnt?«
Sir Willoughby setzte sich aufrecht hin. So aufrecht, wie seine Korpulenz es ihm erlaubte. »Nein.«
»Soweit ich weiß, möchte Miss Gamelin die ganze Summe weggeben.«
»Ahhh...« Er erholte sich so schnell, daß man sich unweigerlich fragte, ob in seiner Stimme gerade eben tatsächlich ein Hauch von Verärgerung mitgeschwungen hatte. »Nun, selbstverständlich ist es ihr Geld, und sie hat jetzt das Alter erlangt, wo sie darüber frei verfügen kann.« Nachdem er auf dem Stuhl ein wenig hin und her gerutscht war, stand er auf. »Ich muß heute nachmittag bei Gericht erscheinen... daher...«
»Werden Sie später Mr. Gamelin herfahren, Sir Willoughby? Falls nicht, werden wir einen Wagen schicken.«
»Ich kann wirklich nicht sagen, wann wir uns sehen werden. Von hier aus werde ich direkt nach Manor House fahren, um nachzusehen, wie es Sylvie und ihrer Mutter geht. Insofern sollten Sie sich nicht auf mich verlassen.«
Ja, dachte Barnaby. Definitiv den Wölfen.
Troy übertrug der Polizeibeamtin Brierley die Aufgabe, Sir Willoughby nach draußen zu geleiten, und beobachtete mit gekräuselten Lippen, wie der Bentley davonrollte. Sinjhan, dachte er. Trüge ich den Namen eines pakistanischen Zeitungshändlers, würde ich es für mich behalten.
Niemand hatte viel geschlafen. Das Frühstück machte seinem Namen kaum Ehre. Jeder riet jedem: »Du mußt etwas essen«, ohne selbst einen Bissen zu sich zu nehmen. Zuvor hatten sie sich in der Halle versammelt (niemand konnte den Gedanken ‘ ertragen, einen Fuß in den Solar zu setzen) und sich im Kreis aufgestellt, um neue Energie zu tanken. Zehn Minuten kontrolliertes Atmen ins universelle Bewußtsein zeigte kaum Wirkung. Kummer hatte einen Keil zwischen sie getrieben. Jeder gedachte des Toten auf seine persönliche Art. Alle hatten sich in unsichtbare Käfige zurückgezogen. Selbst Janet, deren Respekt vor und Bewunderung für den Meister nicht an Ergebenheit grenzten, war erschüttert darüber, wie scheußlich sie sich fühlte.
Christopher schenkte Fruchtsaft ein. Arno zerkrümelte ein Stück Gerstenkuchen. Heather hatte etwas Marmelade in der Farbe eines Melassetoffees auf einen verbrannten Toast gestrichen, ohne davon abzubeißen. Auf Hilarions Rat hin war Ken im Begriff, sich mit einem geradegebogenen Drahtkleiderbügel in den Garten zurückzuziehen, um - falls sie noch vorhanden waren - nach ätherischen Spuren von des Meisters Seele zu suchen, sich also mit dem zu beschäftigen, was er »Operation Karmalicht« nannte.
May saß am Tischende. Ihre ansonsten so stolzen Schultern waren nach unten gesackt, ihr wunderschönes Haar weder gebürstet noch geflochten. Die ganze Nacht hindurch hatte sie geweint. Ihre Augen waren feucht, ihr Blick verschwommen. Ohne Make-up wirkte ihr Gesicht ausgemergelt. Sie sah zehn Jahre älter aus, war nur noch ein vages Abbild ihres früheren Ichs. Ihr Anblick brach Arno fast das Herz. Nie hatte er sie mehr geliebt als in diesem Augenblick.
Fast die ganze Nacht über hatte sie neben Tim ausgeharrt. Um vier Uhr früh war Arno aufgetaucht, um sie abzulösen. Bei seinem Erscheinen kauerte der Junge mit um die angezogenen Beine geschlungenen Armen und fest geschlossenen Augen in Embryonallage auf seinem Bett und weigerte sich beharrlich aufzustehen.
Janet fragte: »Soll ich noch mal Tee machen?« Keiner antwortete ihr. Heather erkundigte sich, wo Suhami steckte.
»Sie wird nicht nach unten kommen«, sagte Christopher. »Sie gibt sich die Schuld an Gamelins Besuch und wagt es nicht, euch unter die Augen zu treten.«
»Armes Mädchen.« Schwerfällig erhob sich May. »Jemand sollte nach ihr sehen.«
»Du wirst nicht reinkommen. Sie hat sich mit mir durch die verschlossene Tür unterhalten.«
»O Gott.« Erschöpft in sich zusammenfallend, warf May Janet einen fragenden Blick zu und konstatierte: »Trixie ist auch nicht hier.«
»Nein.« Die Andeutung, sie kenne den Grund für Trixies Abwesenheit, beschleunigte Janets Puls. »Sie schläft noch. Auf dem Weg nach unten habe ich einen Blick in ihr Zimmer geworfen.«