»Wir trauern doch nur um uns selbst.« Mit gepeinigter Miene kehrte May zu dem Thema zurück, mit dem sich alle beschäftigten. »Er hat es hinter sich. Er befindet sich nun in Gesellschaft der Erleuchteten.«
»Wurde schon wiedergeboren«, sagte Heather mit einem wäßrigen Lächeln.
Auch wenn das wahrscheinlich den Tatsachen entsprach, empfand niemand Trost. Es war einfach zu früh. Wie schrecklich nicht nur der Tod ihres Meisters, sondern auch die Umstände seines Dahinscheidens waren, dämmerte ihnen erst jetzt. Legte sich wie ein dunkler Schleier über ihre Seelen. Die Fakten sprachen Bände, was nichts daran änderte, daß keiner von ihnen den Verlust fassen konnte. Es war einfach unfaßbar. Allein May, die immer noch der Überzeugung anhing, eine gewaltige übernatürliche Kraft habe den Meister geholt, war in der Lage, ihre Verzweiflung in Schach zu halten. »Wir müssen unsere düsteren Gedanken vertreiben«, mahnte Heather. »Ich jedenfalls werde mich darum bemühen - weil er es so gewollt hätte.«
»Du hast recht!« Ken sprang auf, soweit das mit einem steifen Bein überhaupt möglich war. »Heute wird hier eine Menge Liebe vonnöten sein. Ich plädiere dafür, daß wir den Tag mit einer Herz-zu-Herz-Begrüßung beginnen - komm her, Heather.«
»Ich komme.« Seine Frau stand auf, und die beiden bauten sich voreinander auf, blickten sich an und legten die Arme um die Taille des anderen.«
»Direkter Augenkontakt.«
»Köpfe aneinander.«
»Voller Körperkontakt.«
»Langsam und leise atmen.«
»....l.a.n.g.s.a.m.....l.e.i.s.e...«
»Mitgefühl fließt.«
»Mein Herzchakra zu deinem...«
»F.l.i.e.ß.t... f.l.i.e.ß.t....«
»Drücken.«
»Loslassen.«
Lächelnd lösten sie sich voneinander. Ken sah schon viel besser aus. Von den anderen hatte keiner Anstalten gemacht, eine Herz-zu-Herz-Begrüßung zu vollziehen. Arno trank Saft und brach ein weiteres Stück Gerstenkuchen ab. »Ich denke, was helfen würde - was auch helfen würde, sollte ich sagen«, er warf Heather einen entschuldigenden Blick zu, »wäre, sich zu beschäftigen. Ich meine, nach einem... Nach so einem Ereignis gibt es doch gewiß so manches zu organisieren, oder?« Er mußte an den Tod seiner Mutter denken, an die Freunde und Verwandten, die kamen und gingen. An Briefe, die zu beantworten waren, an die Bestattungsfeierlichkeiten.
»Es wird eine Obduktion geben, vermute ich«, sagte Christopher. »Bis das vorbei ist und der Leichnam freigegeben wird, können wir nicht viel unternehmen.«
Diese unverblümte Bemerkung ließ May erneut in Tränen ausbrechen. Arno streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Im letzten Augenblick verließ ihn allerdings der Mut, und er legte seine sommersprossige Hand neben ihre auf den Tisch. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß sie (selbstverständlich ganz unbewußt) nach seiner greifen würde, und da wurde ihm auf der Stelle leicht schwindlig.
»Fürs erste halte ich es für sinnvoll, wie gewohnt unseren täglichen Pflichten nachzugehen. Das hätte der Meister gewollt. Auf lange Sicht...«
»Was meinst du damit?« fragte Ken. »Mit >auf lange Sicht<?«
»Ich denke, er will damit ganz pragmatisch fragen«, mischte Janet sich in das Gespräch ein, »was auf lange Sicht mit dem Haus passieren wird.«
»Ich verstehe nicht«, meinte May entsetzt.
»Nun, May«, sagte Janet mit sanfter Stimme, »einmal angenommen, daß Manor House sein Vermächtnis war, bestünde ja durchaus die Möglichkeit, daß er es nicht uns vermacht hat.«
Während sich alle mit dieser neuen, beunruhigenden und ungeahnten Möglichkeit beschäftigten, stellte sich Schweigen ein. Nach längerem Überlegen meldete sich May zu Wort. »Er muß es uns vermacht haben. Wir waren seine Familie - seine Angehörigen. Das hat er einmal zu mir gesagt.«
»Zu mir auch«, gestand Arno.
»Weiß denn keiner von euch, wem dieses Haus zufällt?« fragte Christopher. »Immerhin seid ihr beiden am längsten hier.«
Arno schüttelte den Kopf. Wie schnell sie sich einem so alltäglichen Thema zuwandten, deprimierte ihn sehr. »Wir haben über alles andere geredet. Über administrative Dinge, wie man Kurse zusammenstellt, über die Finanzierung. Auf dieses spezielle Thema kam die Sprache nie.«
»Es bestand ja auch kein Grund dazu«, meinte May. »Jedenfalls bis jetzt nicht.«
»Hatte er einen Anwalt?«
»Über derlei Dinge hat er nie ein Wort verloren. Seine Bank oder - besser gesagt - die Bank der Lodge ist die National Westminster in Causton.«
»Dann frag dort nach, May«, schlug Ken vor, »wenn du das nächste Mal hinkommst. Du bist diejenige, die die Konten verwaltet. Dich kennen sie.«
»Zumindest akzeptieren sie meine Unterschrift«, gab May zu. »Aber nur bei gewöhnlichen Angelegenheiten. Ich glaube nicht, daß sie verpflichtet sind, mich in die persönlichen Angelegenheiten des Meisters einzuweihen.«
»Sie könnten dir wenigstens sagen, ob ein Kredit existiert.«
»Ein Kredit?« Ken war entrüstet. »Jesus - an so was habe ich gar nicht gedacht.«
»Er war einfach nicht von dieser Welt«, seufzte Heather.
»Sollte mich nicht wundern, wenn er kein Testament hinterlassen hätte.«
»Dem stimme ich nicht zu«, meinte Arno. »Er hat garantiert an uns gedacht und seine Angelegenheiten geregelt.«
»Höchstwahrscheinlich - er hat sich über Tims Zukunft Gedanken gemacht«, glaubte May.
»Andererseits hängt unser Verweilen an diesem Ort«, gab Christopher zu bedenken, »nicht nur von Backsteinen und Mörtel ab, oder? Alle Gemeinschaften, ob religiös oder profan, brauchen einen führenden Geist, auf den sie sich beziehen können. Unser Geist ruhte in ihm. Wer außer ihm kann Vorträge halten, Energiefelder neu aufladen, spirituellen Rat erteilen?«
»Ich bin qualifizierte Therapeutin.« Heather war leicht eingeschnappt. An den Wänden ihres Zimmers hingen fünf gerahmte Zertifikate, darunter eins, das den erfolgreichen Abschluß eines Kurses als Dienerin des Venustempels belegte. »Christopher hat recht«, meinte Janet, die eine ganz andere Meinung zum Thema Beratung hatte als Heather. Normalerweise ging so etwas folgendermaßen vonstatten: Heather saß, ziemlich selbstgefällig auf einem Stuhl, während ihr »Klient« sein Problem erläuterte. Nachdem sie herausgestellt hatte, daß ! jedes Leiden, ob seelisch oder körperlich, das äußere Ergebnis einer inneren spirituellen Ignoranz war, wartete sie kurzerhand mit einer astralausgerichteten Lösung auf. Kaum hatte der Klient seine Rechnung bezahlt und war gegangen, beklagte Heather sich darüber, wie sehr ihre Kunden sie auslaugten.
»Schließlich«, fuhr Janet fort, »sind wir hier alle Laien. Unsere Pflichten waren praktischer Natur. Wir haben Dinge hergestellt, uns darum gekümmert, daß der Laden läuft. Ich habe den Eindruck, unsere zahlreichen Fähigkeiten sind ein wenig dürftig.«
»Du sprichst für dich«, meinte Ken.
Arno machte dem sich daraufhin einstellenden betretenen Schweigen ein Ende. »Hat schon jemand nach Mrs. Gamelin gesehen?«
»Ich möchte sie nicht wecken«, meinte May. »Es ist gerade mal acht Uhr. Sie wird wahrscheinlich noch ein paar Stunden ruhen. Ich habe ihr Ziesttee verabreicht.«
»Herrje, diese Frau hat so viel nötig.« Heather straffte ihre Schultern und legte den Daumen und den kleinen Finger an die Nasenwurzel. Dies tat sie in einer Art und Weise, als ballten sich in ihren Nasenhöhlen wundersam heilende Kräfte zusammen. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich damit fertig werde.«
»Darum hat dich auch niemand gebeten, oder?« sagte Janet, stand auf und schenkte sich Tee ein.