Am Ende lief es darauf hinaus, daß May sich um Felicity kümmerte. Gegen neun Uhr öffnete sie vorsichtig die Tür des Erkerzimmers, warf einen Blick durch den Türspalt und entdeckte hinter einem Wust aus grauem, auf dem Boden liegendem Stoff eine zierliche Gestalt in einem Satinunterhöschen, die auf der Bettkante saß und die Wand anstarrte.
Felicity war völlig durcheinander und fühlte sich höchst eigenartig. Sie versuchte, ihren Geisteszustand zu erfassen. Wenigstens ein Gefühl aus den vielen anderen herauszufiltern, isoliert zu betrachten, zu orten. Kaum hatte sie eine Regung sondiert, wurde sie von einem halben Dutzend anderer hinfortgetragen. Sie hatte den Eindruck, schon vor Ewigkeiten auf Manor House eingetroffen zu sein. Erst bei Morgengrauen hatte sie die Augen geschlossen, und das auch nur aus einem unbestimmten Pflichtgefühl heraus, was zweifellos zu ihrem geistigen Chaos beitrug.
Anfänglich hatten die außergewöhnlichen und beängstigenden Ereignisse vom vergangenen Abend sie überhaupt nicht » berührt. Einerseits war ihr alles sehr fröhlich und klar und interessant vorgekommen, auf der anderen Seite aber auch irgendwie irreal, als hätte sich alles auf einer weit entfernten Bühne abgespielt. Oder hinter einer dicken Panzerglasscheibe. (Ehe sie sich in den Solar begeben hatte, hatte sie sich in der Toilette im Erdgeschoß eine dritte Line genehmigt.) Kurz nach dem Eintreffen der Polizei, hatte die Wirkung der Droge nachgelassen. Furcht, Besorgnis und das ganze Durcheinander stürmten auf sie ein und rissen ihr den Boden unter den Füßen weg. Langsam dämmerte ihr, daß sie irgendwie in schreckliche Ereignisse verwickelt war und lächerlich aussah, weil sie Danton erlaubt hatte, aus ihr eine Jahrmarktsnummer zu machen - ein Privileg, für das sie auch noch einen gehörigen Batzen hatte bezahlen müssen. Das Knarzen der Tür ließ sie hochfahren. . Voller Entsetzen starrte sie May an, an die sie sich nicht erinnerte.
May brachte eine Tasse mit dampfendem Tee. In einem besonderen Schränkchen wurden Besucherrationen (Earl-Grey-Teebeutel, Kaffeebohnen und andere dekadente Köstlichkeiten) aufbewahrt. Sie hatte ein paar Tropfen Edelsteinelixier zugegeben, um Felicitys Genesung zu beschleunigen. May stellte die Tasse auf dem Nachtschränkchen ab, setzte sich und nahm Felicitys Hand.
Felicity sah erbärmlich aus. Ihr Gesicht war mit farbenfrohen Klecksen übersät, als sei ein Kind mit einer Packung Buntstifte darüber hergefallen. Die üppige Verwendung von Haarschaum, Spray und Gel hatte ihr Haar in eine leblose, verfilzte Masse verwandelt. May streichelte Felicitys Hand, lächelte • ihr aufmunternd zu und drängte sie nach einer Weile, einen Schluck Tee zu trinken.
Felicity kam der Aufforderung nach, doch ihre Lippen bebten so stark, daß die Zähne gegen den Tassenrand schlugen und sie etwas Flüssigkeit verschüttete. Wieder hielt May die Hand der anderen Frau. Mehr fiel ihr angesichts ihrer eigenen Trauer und dem Gefühlschaos, dem Felicity ausgeliefert war, im Augenblick nicht ein. Sanft, behutsam, so mußte sie vorgehen. Hier war ein großes Maß an Hilfe und Unterstützung notwendig. Das schloß May aus Felicitys unharmonischer Aura. Einer der schlimmsten Fälle, mit denen sie je konfrontiert gewesen war.
Etwas später näherte sich May dem offenen Schweinslederkoffer. In der Absicht, Felicity ein Bad nehmen zu lassen, suchte sie nach frischer Unterwäsche und fand einen großen pinkfarbenen und goldenen Cremetiegel. Mit langsamen, rhythmischen Bewegungen reinigte sie damit Felicitys Gesicht. Nach dem dritten Versuch quoll der Abfallkorb von benutzten Gesichtstüchern über, und Felicitys eigentliche Gesichtsfarbe, ein ebenmäßiges Elfenbeinweiß, kam zum Vorschein.
May ging kurz in ihr eigenes Zimmer, kramte das untere Fach ihres Kleiderschranks durch und fand ein nachtblaues Gewand. (Es gab keine andere Farbe, die den Geist mehr erfrischte.) Außerdem schnappte sie sich noch eine Tube Malvenshampoo und ein weiches Handtuch und kehrte zu Felicity zurück, um ihr die Haare zu waschen.
Dies stellte sich als wesentlich komplizierter heraus als die Reinigung des Gesichts. Felicity beugte sich zwar fügsam über das Becken, hielt ganz still und drückte einen Waschlappen auf die Augen, die Probleme fingen aber damit an, daß sie eine Menge Haare hatte. Das ganze Waschbecken war voll davon. May glaubte, mit einer Löwenmähne zu kämpfen. Die Haarmenge war - wie sich nach dem zweiten Ausspülen herausstellte - einem riesigen Haarbüschel zuzuschreiben, das May überraschenderweise in der Hand hielt. Anfänglich reagierte sie schockiert (hatte sie es hier mit einer starken Malvenallergie zu tun?), erkannte aber, daß es sich um ein falsches Haarteil handelte. Sie wrang es aus, drapierte es über die Stuhllehne und fuhr mit dem Shampoonieren fort. Was für eine widerliche Brühe! Wie konnte es jemand ertragen, all dieses eklige Zeug auf dem Kopf zu haben? May wickelte Felicitys Haar in } das weiche Handtuch und klopfte vorsichtig darauf. Danach ‘ kämmte sie es und umwickelte es mit einem farbigen Haarband, das in ihrer Tasche lag.
»Nun«, May beugte sich auf Felicitys Augenhöhe hinunter und lächelte, »fühlen Sie sich jetzt nicht schon etwas besser?«
Felicity stieß einen traurigen kleinen Laut aus, wie ein hungriges Kätzchen.
»Na, na«, sagte May. »Ich würde jetzt vorschlagen...«, sie nahm Felicity beim Arm, »daß Sie sich bis zur Mittagszeit hinlegen. Etwas später können Sie ein Bad nehmen und eine Kleinigkeit essen.«
Benommen setzte sich Felicity aufs Bett und warf May einen Blick aus ihren dunklen, traurigen Augen zu.
»Es ist schon in Ordnung. Alles wird gut. Wir werden uns um Sie kümmern.« May beugte sich vor und küßte Felicity auf die Wange.
Während in der oberen Etage diese feinfühlige Waschung vonstatten ging, wusch Janet in der Küche das Geschirr ab und knallte wie üblich die von ihr getöpferten Müslischüsseln in das Steinwaschbecken. Beim Nachspülen mit klarem Wasser dachte sie ans Mittagessen. Suhamis Name stand auf der Liste.
Bislang hatte sie sich noch nicht blicken lassen, und jetzt war es schon zehn Uhr. Der heutige Tag würde aus dem Ruder laufen und - wie Janet vermutete - noch viele andere. Die Endgültigkeit des Dahinscheidens des Meisters traf sie mit voller Wucht. Sie hätte schwören können, daß das Leben auf Manor House nie mehr dasselbe sein würde, egal wie sehr sie alle daran festzuhalten versuchten.
Was würde nun mit ihnen allen geschehen? Wohin würden sie gehen, wenn sich herausstellte, daß das Haus nicht mehr zur Verfügung stand? Würden sie versuchen, gemeinsam an einem anderen Ort ihre Zelte aufzuschlagen? Und würde sie das wollen?
Janet war sich darüber im klaren, daß ihr jenes intensive Bedürfnis fremd war, sich in das Leben anderer einzumischen, eine Eigenschaft, die die übrigen Kommunenmitglieder als Freundschaft definierten. Von einem philosophischen Standpunkt aus betrachtet, fiel es ihr schwer, sich konform zu verhalten. Ausufernde Oberflächlichkeit und fantastische Vorahnungen waren ihrem Wesen fremd. Vorzugeben, alle Probleme seien lösbar, fand sie arrogant. Und sie meckerte ab und an ganz gern, was bei ihren Mitbewohnern nur Stirnrunzeln hervorrief. Erst neulich, als sie sich leicht abfällig über das Wetter geäußert hatte, hatte Heather ihr einen Vortrag gehalten und geraten, dankbar zu sein, daß sie nicht blind war oder an multipler Sklerose litt und in einem Hochhaus lebte.
Die Erinnerung erregte ihren Zorn. Janet beschloß, gegen die Regeln zu verstoßen und echten Kaffee zu kochen. Stimulierenden Auftrieb - das brauchte sie im Moment, und wen kümmerte da Magenkrebs? Oder war es ein Leberegel? Sie nahm sich vor, Trixie auch eine Tasse Kaffee zu bringen. Und vielleicht ein paar Kekse.
Im Besucherschrank entdeckte sie eine organisch bedenkliche Schachtel mit Uncle Bob’s Treacle Deligbts. Sie mahlte die Kaffeebohnen, atmete tief das köstliche Aroma ein und machte die Keksschachtel auf. Die Verpackung war multikulturell gestaltet und zeigte eine Chinesin mit einem Sombrero, an dessen Rand Korken baumelten. Für die Deligbts wählte Janet einen Teller mit blauem Blumenmuster, stellte ihn wieder zurück, nahm einen senfgelben mit roten Blüten heraus, stellte auch den zurück und entschied sich nach langem Ringen für einen blaßrosa Teller mit durchbrochenem Rand. Mit Bedacht legte sie die sirupfarbenen Kekse in überlappenden Halbkreisen darauf und schnitt draußen vor dem Küchenfenster eine kleine Rose (die hervorragend zum Teller paßte) ab, während der Kaffee durchlief.