Auf dem Weg in die Halle schnürte sich ihr Magen zusammen bei der Vorstellung, daß sie Trixie gleich aufwecken würde. Janet blieb abrupt stehen. Drüben, auf den unteren Treppenstufen, standen May und Arno und sprachen mit einem kräftigen Mann in einem gemusterten Anzug. Während sie noch zögerte, machten May und der Mann auf dem Absatz kehrt und verzogen sich nach oben.
»Wer war das, Arno?«
»Der Anwalt der Gamelins.« Sein Blick folgte May. Es fiel ihm schwer, sich auf Janet zu konzentrieren, sie anzusehen. »Etwas Schreckliches ist geschehen. Zumindest würde man es normalerweise schrecklich finden. Ich frage mich allerdings, ob es nicht ein Segen ist. Er wurde heute morgen in seinem Hotelzimmer tot aufgefunden.«
•»Was... Guy?«
Arno nickte. »Offenbar hat er darum gebeten, gegen neun geweckt zu werden. Das Mädchen brachte Tee nach oben, und da lag er einfach da. War nicht mal zu Bett gegangen. Sie nehmen an, daß es sich um einen Herzinfarkt gehandelt hat.«
»Wie furchtbar.« Kaum war ihr diese Erwiderung über die Lippen gekommen, empfand Janet Freude. Er war ein gräßlicher Mann gewesen. Habsüchtig und unfreundlich. Ohne ihn war die Welt besser dran. Was für aufregende Nachrichten durfte sie nun Trixie überbringen! Welch süßes Geschenk! Viel besser als echter Kaffee und Uncle Bob’s Deligbts. Viel besser , als die Rose. Arno sagte irgend etwas.
»May nahm an, daß Suhami eher in der Verfassung ist, die Nachricht entgegenzunehmen. Ihre Mutter ist immer noch nicht ganz...« Er brach taktvoll ab. Janet stieg schon die Treppe hoch.
Trixie schlief nicht, sondern hatte es sich auf der Erkerbank bequem gemacht und rauchte. »Ist Post gekommen?«
»Ja.« Janet stellte das Tablett auf der Kommode ab. Sie fragte sich, ob Trixie wieder auf einen dieser Briefe im blauen Kuvert wartete. »Erwartest du einen Brief?«
»Eigentlich nicht.« Trixie trug ein apfelgrünes Seidenkleid. Ihr Gesicht war ungeschminkt, ihre Haut weich und glatt wie Samt. Auf der Innenseite ihrer Arme konnte Janet rote Kneifspuren erkennen, die sich langsam in blaue Flecken verwandelten.
»Ich habe echten Kaffee gekocht.« Sie schenkte zwei Tassen ein.
»Dafür wirst du einen Rüffel kriegen. Wir leben hier in einer koffeinfreien Zone.«
»Und eine Schachtel Kekse aufgemacht.« Janet stellte ihre Tasse ab und brachte das Tablett zum Fenster hinüber. Die Rose wirkte ziemlich dumm, wenn nicht gar überflüssig. Sie hatte vergessen, daß Trixie schon eine Vase mit Rosen aufgestellt hatte. »Trink, solange er noch heiß ist.«
Trixie bat sie, den Mund zu halten. Diese Zurechtweisung akzeptierte Janet mit der Geduld eines Menschen, der wußte, daß er in Kürze ein großes Geheimnis lüften durfte. Sie griff nach ihrer Tasse und nahm einen Schluck. Herrje - sie hatte fast vergessen, wie köstlich echter Kaffee schmeckte! Waren blitzsaubere Gedärme so ein Opfer wert? »Schmeckt er dir?« fragte sie kurz angebunden.
»Köstlich. Wird mich aufwärmen.«
Janet begriff nicht. Die Sonne schien ins Zimmer. Trixie aalte sich darin.
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten? Ich meine, von der Polizei.«
»Die ist gerade hier. Mit dem Anwalt der Gamelins.« Janet hielt inne. Ihr ausgemergeltes Gesicht glühte erwartungsvoll. Nun war der richtige Augenblick gekommen. Dennoch zögerte sie. Die Nachricht konnte sie nur einmal überbringen. Danach stand sie wieder mit leeren Händen da. Trotzdem war es ihr unmöglich, sich zurückzuhalten. Verschlagenheit entsprach nicht ihrem Naturell. Am Ende platzte sie einfach mit der Information heraus.
»Guy Gamelin ist tot. Er hatte einen Herzinfarkt.«
Auf ewig würde sie sich an das erinnern, was dann geschah. Trixie richtete sich derart abrupt auf, als erhielte sie Elektroschocks. Kaffee spritzte auf ihr apfelgrünes Seidenkleid, auf ihre bloßen Beine. Die Kaffeetasse fiel zu Boden. Sie stieß einen lauten Schrei aus und legte blitzschnell die Hand auf den Mund. Dann rief sie: »O Gott - was soll ich jetzt tun?«, und brach in Tränen aus.
Eine halbe Stunde nach dieser dramatischen und überraschenden Reaktion verhörte die Polizei Tim. Unerträglich langsam, richtiggehend widerwillig führte Arno sie zum Zimmer des Jungen. In der Nähe der Tür wurde sein Schritt noch langsamer, bis er ganz stehenblieb, sich zu Barnaby umdrehte und dem Chief Inspector die Hand auf den Arm legte.
»Er wird Ihnen nicht behilflich sein können, wissen Sie?«
»Bitte, Mr. Gibbs. Das haben wir unten ausführlich durchgesprochen.«
»Da Sie entschlossen sind... würden Sie...?« Arno war ein Stück beiseite getreten und winkte. Als die beiden Männer sich zu ihm gesellten, fuhr er mit gesenkter Stimme fort: »Ich denke, ich muß Ihnen etwas über seinen Hintergrund erzählen. Niemand hier weiß Bescheid, doch es könnte Ihnen helfen zu verstehen und... Sehen Sie, ich traf ihn oder, besser gesagt, fand ihn vor sechs Monaten.«
Er brach ab, legte kurz die Hände über die Augen und fuhr dann fort: »Ich habe den Meister nach Uxbrigde gefahren. Ins Krankenhaus. Dorthin ging er jeden Donnerstag. Wir hatten verabredet, uns hinterher am Wagen zu treffen. Ganz in der Nähe gibt es eine öffentliche Toilette, die ich aufsuchen mußte. Auf dem Weg die Treppe hinunter kamen mir drei Männer entgegen. Große, kräftige Männer. Einer hatte rot und blau tätowierte Arme. Sie lachten - laut und herzlos. Häßlich, nicht aus Spaß. Ich benutzte das Urinal, wähnte mich allein. Auf einmal hörte ich leises Jammern, das aus einem der Abteile kam. Er war da drinnen - Tim. Seine Hosen waren bis zu den Knien runtergezogen, und er blutete aus dem After. Sie hatten ihn... genommen.« Arnos Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Barnaby neigte sich vor, um sein Gegenüber zu verstehen. »Da war auch... nun... etwas Geld... eine Fünfpfundnote. Ich meine, sie klemmte zwischen den Pobacken... Es war grausam.«
Arno war nicht in der Lage weiterzusprechen. Er zog ein Taschentuch heraus, drehte sich weg und tupfte seine Augen ab. Barnaby, der sich die eben geschilderte Szene ausmalte, empfand Mitleid. Selbst Troy fühlte mit dem Jungen mit und dachte: Das Leben ist grausam, daran besteht kein Zweifel. Nach einer Weile entschuldigte sich Arno und fuhr fort:
»Er litt große Schmerzen und verstand nichts. Nie werde ich vergessen, wie er sich umgeschaut hat... seine Augen... Mir war, als hätte ich ein mißhandeltes Kind gefunden. Oder ein geschundenes Tier. Ich bemühte mich, ihm zu helfen, aber er hielt sich einfach nur an der Toilette fest, schlang die Arme um die Schüssel. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. So lief ich zum Parkplatz, wo der Meister wartete, und erzählte ihm, was sich zugetragen hatte. Er ging mit mir zurück. Inzwischen hatte Tim die Tür verriegelt. Eine geschlagene Stunde redete der Meister durch die geschlossene Tür auf ihn ein. Der eine oder andere Mann, der in dieser Zeit die Toilette aufsuchte, warf ihm merkwürdige Blicke zu. Sie haben ihn natürlich nie sprechen gehört, Inspector. Er hatte eine ganz außergewöhnliche Stimme. Nicht nur sehr wohlklingend, sondern ungewöhnlich warm... und freundlich. Sehr gewinnend. Was immer er einem erzählte, man glaubte ihm auf der Stelle. Irgendwann entriegelte Tim die Tür. Der Meister redete ihm gut zu, strich ihm übers Haar. Etwas später halfen wir ihm, sich anzuziehen, geleiteten ihn zum Wagen und fuhren mit ihm hierher. May brachte ihn ins Bett, und wir sorgten für ihn. Und das tun wir immer noch. Selbstverständlich mußten wir uns mit dem Sozialamt in Verbindung setzen. Wir wurden ganz genau überprüft, was mir etwas eigenartig vorkam, wenn man sich überlegt, wie sehr man diesen Jungen vernachlässigt hat. Sie werfen ihn aus dem Krankenhaus und stecken ihn in ein Heim, wo er, wenn er Glück hatte, einmal pro Woche von einem Fürsorger besucht wird. Wir bekamen Instruktionen zur Medikamentenvergabe, und das war’s dann mehr oder weniger. Ich denke, den Ausschlag gegeben hat der Umstand, daß wir mehr oder minder eine religiöse Organisation sind. Sie behaupteten, uns von Zeit ZU Zeit zu überprüfen, was bisher nicht passiert ist. Ich glaube, sie sind froh, einen weniger auf der Liste zu haben.«