Arno sprach nicht weiter und warf dem Inspector einen Blick zu. Er hoffte, mit dieser niederschmetternden Geschichte den Beamten von seiner Absicht abgebracht zu haben. Als klar wurde, daß dem nicht so war, sagte er: »Nun, dann kommen Sie bitte mit...«
Tims Zimmer war fast dunkel. Sonnenlicht fiel durch einen Schlitz in den schweren Samtvorhängen auf das Fensterbrett. Arno zog den Samt auf, aber nur ein wenig. Die zusammengekauerte Gestalt unter der Decke rührte sich umgehend und begann zu zittern. Die Luft roch abgestanden. Barnaby hätte viel darum gegeben, das Fenster aufreißen zu dürfen.
Arno näherte sich dem Bett, rief leise den Namen des Jungen. Als er die Bettdecke wegnahm, schimmerte Tims Haar golden auf dem Kissen, und er schlug die Augen auf wie eine mechanische Puppe. Barnaby hörte, wie Troy hinter seinem Rücken den Atem anhielt, und auch er selbst blieb nicht unberührt von der bemerkenswerten Schönheit des Jungen, der Tränen und Trauer nichts anhaben konnten.
»Tim? Mr. Barnaby würde sich gern kurz mit dir unterhalten - keine Angst...« Der Junge wich zurück. Schüttelte den Kopf. Wie ein dünner türkiser Wurm pulsierte eine Ader auf seiner Stirn.
»Ich werde nicht Weggehen«, fuhr Arno fort.
Barnaby nahm einen Stuhl, um nicht auf den Jungen herabsehen zu müssen, und setzte sich Arno gegenüber. Auf ein Nicken seines Chefs hin verzog sich Troy in die gegenüberliegende Zimmerecke und holte ohne Hoffnung einen Notizblock hervor.
»Ich kann mir vorstellen, wie unglücklich du bist, Tim, aber ich bin mir sicher, daß du uns gern helfen möchtest.« Das gurrende Zirpen einer Taube. Troy beklagte, daß das Revier derlei Fähigkeiten niemals honorierte. Trotz des einfühlsamen Tonfalls des Inspectors streckte Tim bestürzt die Hände nach Arno aus.
Am vergangenen Abend hatte Arno erwähnt, daß der Junge immer so reagierte. Dennoch bekam der Chief Inspector den Eindruck, daß der Junge von Sekunde zu Sekunde verängstigter wurde und daß seine behutsame Vorgehensweise nichts daran änderte. Dies verriet ihm Tims Blick, die zusehends heftiger pulsierende Ader. Barnaby zählte stumm bis fünf, ehe er fortfuhr.
»Begreifst du, was geschehen ist, Tim? Daß hier jemand gestorben ist?«
Wieder entstand eine Pause. Ein paar Minuten später drehte der Junge sein schwach erleuchtetes Gesicht auf dem Kissen. Die Wangen waren tränenüberströmt. Strahlendblaue Augen suchten Barnabys Blick, schauten in eine andere Richtung, kehrten zurück. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrmals. Schließlich fixierte der Junge ihn, schien etwas sagen zu wollen.
»Fragen... fragen...«
»Wen sollen wir fragen, Tim?«
»Frag... sie...«
Die Stimme war kaum mehr als ein leises Wispern. Glücklicherweise machte Barnaby nicht den Fehler, sich weiter vorzubeugen. Er wiederholte nur seine Frage und fügte jetzt, wo er das Geschlecht kannte, hinzu: »Meinst du vielleicht May? Soll ich May fragen? Oder Suhami?«
»Nö... nö...« Tim schüttelte heftig den Kopf, woraufhin der blondschimmernde Heiligenschein erstrahlte. »Unnerfall... Unnnerfall...«
Barnaby fragte: »Sprichst du von einem Unfall?«
»Nein, Chief Inspector. Er sagt nur -«
Arno brach ab, da Tim undeutlich die Worte des Inspectors wiederholte.
»... mein Unnerfall... Un... fall...« Nachdem Tim das Wort einmal richtig ausgesprochen hatte, wiederholte er es in immer kürzeren Abständen, immer lauter und schriller, bis die beiden Silben sich in sinnloses Geplapper verwandelten. Unter der Decke zuckte sein Körper heftig, und er verdrehte unablässig die Augen. So gut, wie es einem Mann seines Temperaments möglich war, warf Arno dem Inspector einen erbosten Blick zu, strich Tim schützend über die Stirn und gab dem Polizeibeamten deutlich zu verstehen, daß er nicht guthieß, was er da trieb.
Barnaby schaltete auf stur und machte dreißig Minuten so weiter trotz seiner Vermutung, daß Tim nichts Neues mehr äußern würde. Der Junge verstummte bald und flüchtete sich in den Schlaf. Arnos Unmut legte sich dennoch nicht. Barnaby konnte nicht umhin, die negative Energie zu spüren.
Er weigerte sich, Schuldgefühle zu empfinden. Er wußte, er hatte das Recht und die Pflicht, Tim zu befragen. Wußte, daß er betont taktvoll und human vorgegangen war. Die geistige Verwirrung des Jungen bedeutete nicht, daß er nicht in der Lage war, die Ereignisse mitzukriegen. Natürlich hatte Barnaby nicht geahnt, wie verwirrt er war. Und trotzdem...
An diesem Punkt des Nachdenkens erhaschte er Troys Blick. Wie gewöhnlich zeigte sein Sergeant eine Miene, die seine wahren Gefühle nicht erkennen ließ. Er senkte die Lider, nachdem er seinem Vorgesetzten einen ungeduldigen, ablehnenden Blick zugeworfen hatte. Diesen Blick übersetzte Barnaby richtig: Was für eine verdammte Zeitverschwendung!
Er konnte noch nicht sagen, ob er derselben Meinung war. Es war nicht uninteressant, daß Tim, der Craigie auf dem Podest am nächsten gewesen war, den Tod als Unfall betrachtete. Darüber hinaus zeugte Arnos Haltung von einer viel tiefsitzenderen Angst, die Barnabys Einschätzung nach nicht allein dem Beschützerinstinkt des Mannes zuzuschreiben war.
Nein - Barnaby stand auf und ging zur Tür -, das war keine Zeitverschwendung gewesen.
Gleich nachdem er von Gamelins Tod erfahren hatte, machte sich Christopher auf die Suche nach Suhami. Ihr Zimmer war leer. Kurz darauf fand er sie auf der zum Kräutergarten führenden Terrasse. May hatte alles darangesetzt, ihn davon abzuhalten. »Sie braucht etwas Zeit für sich allein. Um den Verlust zu verdauen.«
Suhami drehte sich nicht um, sondern blieb reglos wie eine Salzsäule stehen. Er betrachtete ihr Profil. Sie kam ihm sehr ruhig vor, schien tief in Gedanken versunken zu sein.
»Wie fühlst du dich?«
»Ich weiß es nicht.« In diesem Moment wandte sie sich um, und er stellte fest, daß sie längst nicht so gefaßt war, wie er gemeint hatte, sondern ziemlich betroffen zu sein schien. »Ich habe das Gefühl, etwas verloren zu haben, weiß aber nicht, was. Ihn bestimmt nicht... ihn nicht.« In der Wiederholung schwang eine beunruhigende Mischung aus Entsetzen und Zufriedenheit mit.
Christopher fühlte sich unwohl in seiner Haut. Ihre Reglosigkeit kam ihm unnatürlich vor. Nach ihrer Hand greifend, sagte er: »Laß uns Spazierengehen.«
Sie gingen die Stufen hinunter, achteten darauf, nicht auf wuchernden Hauswurz und Grasnelken zu treten, und flanierten in den eigentlichen Garten. Es war schon ziemlich heiß. Das Summen der Bienen, die rosa Lavendel und Borretsch aussaugten, erfüllte die Luft.
Gedanken an eine gemeinsame Zukunft mit Suhami ließen Christopher nicht los. Wäre ihr Vater nicht eben verstorben, hätte er herauszufinden versucht, wie sie darüber dachte, die Kommune zu verlassen, zumal er den Eindruck hatte, daß vor allem Ian Craigies Gegenwart sie hier gehalten hatte. Möglicherweise entschied sie sich, auch nach seinem Tod zu bleiben. Sollte dies der Fall sein, würde er ebenfalls bleiben. Er hatte bestimmt nicht vor, sie aufzugeben. Sie setzten sich auf ein kleines rundes Rasenstück. Ein leuchtender Kreis aus silbernem Thymian und Kamille.