»Wie nimmt deine Mutter es auf?«
»Sie weiß es noch nicht. Will hat mich zuerst informiert. Er hielt es für besser, daß ich mich um alles kümmere. Wenn wir zurückgehen, werde ich es ihr sagen. Oder heute nachmittag. Es ist nicht so, daß es Eile hätte...«
»Ist es wahr, daß sie miteinander unglücklich waren?«
»Den Eindruck erweckten sie jedenfalls immer. Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand mit ihm Zusammenleben und nicht unglücklich sein soll.« Mit angespannter Miene wandte sie sich von ihm ab. »Kann gut sein, daß es bei uns auch so kommen wird.«
»Niemals.« Christopher lächelte. Das »uns« machte ihm Mut. »Das ist das Leben anderer. Wir sind wir. Das...« Er legte seine Hand auf ihren Nacken, zog sie an sich heran und küßte sie. »Das hier bist du...« Seine Lippen blieben nahe bei ihrem •Mund. »Und das bin ich.«
Ihre Schweigsamkeit setzte ihm zu. Noch gestern hatten sie beinahe ekstatisch miteinander getanzt. Er griff in seine Jeanstasche und zog eine in pinkfarbenes Papier gewickelte Schachtel heraus.
»Das hier habe ich dir zum Geburtstag gekauft. Bevor ich wußte, wer du in Wirklichkeit bist. Danach hatte ich das Gefühl, dir das Geschenk nicht geben zu können.«
»Aber du hast dich getäuscht.«
»Ja.«
»Wer ich wirklich bin.« Die Schachtel lag auf ihrem Schoß, ihr Finger steckte in der Schleife. »Der Meister hat gesagt, wir sollen genau das herausfinden. Darum geht es in Wirklichkeit, nicht wahr, Christopher? Im Vergleich dazu ist alles andere belanglos.«
»Du kannst die Philosophin spielen, wenn du alt bist. Auf die großen Fragen gibt es sowieso keine Antworten. Mach dein Geschenk auf.«
Suhami legte die Ohrringe an. Zartes, filigranes Geschmeide, an denen winzige Perlen hingen. Sie drehte ihren Kopf hin und her.
»Du bist wie eine schöne Tempeltänzerin. Ach, du bist so schön, Suze.«
Sie neigte ihren kleinen Kopf ungläubig und mit ernster Miene, ohne zu protestieren, wie das hübsche Mädchen für gewöhnlich machten.
»Was kann ich dir sagen?« fragte er verzweifelt. Sie hob die schmalen Schultern und lachte resigniert. »Gestern, im Schuppen -«, begann er von vorn.
»Gestern hast du gesehen, wie ich früher war. Verängstigt, verzweifelt, nach Glück, nach menschlicher Gesellschaft gierend. Außer mir, wenn man mich allein ließ. So kann ich nicht mehr leben, Christopher, das kann ich einfach nicht. Und das werde ich auch nicht.«
»Du brauchst doch keine Angst zu haben. Ich werde dich niemals verlassen -«
»Ja, das sagst du jetzt. Und vielleicht ist es wahr. Aber die Menschen unterscheiden sich nicht von anderen Lebensformen. Sie verändern sich permanent.«
»Das klingt ein wenig pessimistisch.«
»Nein, das ist realistisch. Offensichtlich. Veränderung ist die einzige Konstante, und ich will mich nicht mein ganzes Leben davor fürchten.«
»Wie steht es mit Glaube und Hoffnung?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie von Bedeutung sind.«
»Diese Art von Stoizismus paßt zu alten Männern auf dem Schlachtfeld. Oder zu Neurotikern. Aus Angst, daß was schiefgeht, keine Beziehung einzugehen ist dumm. Einsam und allein zu enden, halb tot wie -«
Schweigen machte sich breit. Die Bienen summten lauter als je zuvor. Einer der Fische im Teich sprang nach oben und ließ sich ins Wasser zurückfallen. Ein Lüftchen regte sich. Suhami gelobte: »Wie meine Mutter werde ich nie enden.«
»Es tut mir leid.«
»Du bist sauer, nicht wahr?«
»Natürlich bin ich sauer. Ich muß Zusehen, wie unsere Zukunft den Bach runtergeht.«
»Du hast nicht verstanden.«
»Ich denke, du weißt nicht, was du willst.«
»Ich möchte...« Sie besann sich auf einen einzigen Moment der Erleuchtung im Solar. Auf die Worte des Meisters, mit dem sie sich erst vor vierundzwanzig Stunden unterhalten hatte. Auf seine feste Überzeugung, daß unter ihrem ruhelosen, verwirrenden Dasein all das verborgen lag, was sie brauchte, um Ruhe und Kraft zu finden. »Ich suche etwas, das kein Ende hat.«
»Alles endet irgendwann einmal. Lektion eins aus dem Handbuch für Stoiker.«
»Nein, es gibt etwas, das nicht endet. Man kann es finden und sich immer wieder darauf berufen. Ich weiß, daß das so ist. Der Meister nannte es die kostbare Perle.«
Wie unoriginell von ihm, dachte Christopher. Er streckte die Hand aus und berührte ihren Zopf, zupfte samtene Haarsträhnen heraus, die nach Jasminblütenöl rochen. »Wieso können wir das nicht gemeinsam suchen? Du weißt, auch ich interessiere mich dafür. Aus welchem Grund bin ich deiner Meinung nach hier?« Er zog sie an sich. »Wir könnten unsere Flitterwochen in einem Retreat verbringen, wenn du möchtest.«
»Flitterwochen.« In ihrer Wiederholung schwang ein Anflug von Sehnsucht mit. Ermutigt plapperte Christopher weiter.
»Man muß nicht in einer religiösen Kommune leben, um ein religiöses Leben zu führen. Es gibt eine Menge Laien, die meditieren und beten. Die leise und ohne aufzufallen existieren. Warum können wir nicht wie sie sein?« Suhami legte die Stirn in Falten. Sie machte einen unsicheren, leicht verwirrten Eindruck. »Glaubst du nicht, daß esoterisches Wissen unterschiedlich angewendet werden kann? Trifft man die richtige Entscheidung am richtigen Tag, gut. Wenn nicht...«
Suhami lächelte zaghaft. Ihr gefiel, wie er sich ausdrückte. Es erinnerte sie an die Einschätzung des Meisters: daß das Bestreben, einen Traum wahr werden zu lassen, nicht nur sinnlos, sondern kontraproduktiv war.
Christopher erwiderte ihr Lächeln doppelt, dreifach, vielfach. Sein eigenes war flink und breit, voller Zutrauen. Die Zeit ' war auf seiner Seite. Die Jugend. Und leidenschaftliche Entschlossenheit. Am Ende würde sie gewiß die seine sein.
Bei ihrer Rückkehr ins Haus hatten sich die anderen zu einem Schwätzchen in der Küche versammelt. Alle saßen an dem großen Tisch, zerbröselten Uncle Bob’s Treacle Delights und tranken eine wohlriechende Arabica-Kaffeebohnenmischung. Nachdem sie anfänglich überrascht und dann erfreut die raren säkularen Delikatessen beäugt hatten, schenkten Suhami und Christopher sich Kaffee ein und teilten den letzten Keks miteinander. Die Unterhaltung drehte sich um Trixie, während Janet Fragen gestellt wurden, die aufrecht auf ihrem Stuhl und im wörtlichen wie im übertragenen Sinn mit dem Rücken zur Wand saß.
»Bist du sicher«, fragte Arno, »daß du überhaupt nichts aus ihr rausgekriegt hast?«
»Sie muß doch«, meinte Heather, »irgendwas gesagt haben, was Sinn machte.«
»Menschen, die hysterische Anfälle kriegen, sagen selten etwas, das Sinn macht.«
Die fragliche Szene hatten sie die letzte Stunde gründlich durchleuchtet, und Janet hatte inzwischen die Nase gestrichen voll. Die anderen hatten sich mit der gleichen gierigen Besorgnis auf diese beunruhigende und beängstigende Episode gestürzt, die sie in derartigen Situationen stets an den Tag legten. Die scheinen keinen Unterschied zu machen, dachte Janet verdrießlich, zwischen gutgemeinter Anteilnahme, herrischer Einmischung und Schikane. Andererseits mußte sie sich eingestehen, daß sie Trixie auch ziemlich schikaniert hatte, selbst wenn das nicht ihre Absicht gewesen war.
Auf Trixies Gezeter hin war Janet durchs Zimmer gelaufen und hatte »Tu’s nicht« geraten und dummes Geschwätz wie »Ist doch alles in Ordnung« von sich gegeben. Sie hatte Trixie an den Schultern gepackt oder es zumindest versucht. Aber Trixie hatte sich gewunden, losgerissen, wild mit den Armen um sich geschlagen, Janet einen Schlag auf den Hals verpaßt und nonstop panisches Geschrei ausgestoßen. Unablässig hatte sie wie ein gestrandeter Fisch den Mund geöffnet und geschlossen und Janet mit leeren, nichtssagenden Blicken bombardiert. Ihr Blick hat verraten, dachte Janet später, daß sie die Fähigkeit besaß, das zu tun, was sie getan hatte.