Janet hatte nicht mit Absicht so hart zugeschlagen. Ihre Handfläche schmerzte immer noch. Offenbar hatte sie weit ausgeholt. Als ihre Hand Trixies Wange berührte, war das Mädchen zur Seite getaumelt und gegen die Wand gedonnert. Und doch hatte der Schlag Wirkung gezeigt, wie das in Spielfilmen immer der Fall war. Trixie hörte sofort auf zu schreien. Langsam dämmerte ihr, was Sache war. Ein roter Fleck prangte auf ihrer Wange. Schließlich waren die anderen aufgetaucht und hatten Janet in den Hintergrund gedrängt. Draußen auf der Galerie hatte sie - am ganzen Leib zitternd Halt am Geländer gesucht und immer wieder jenen gewalttätigen Augenblick durchlebt. Zuerst war sie davon überzeugt gewesen, allein aus Verzweiflung gehandelt zu haben (alles war erlaubt, um dieses schreckliche, seelenlose Geschrei abzustellen). Nun wurde sie sich anderer, komplexerer Motive bewußt, die ihr Handeln ebenfalls bestimmt hatten. War sie ehrlich, mußte sie einräumen, daß der Schlag ihr eine gewisse Befriedigung verschafft hatte. Ihre Rachegelüste gestillt hatte. Wie erbärmlich! Dieses Wissen machte Janet krank vor Scham. Bis zum heutigen Tag hatte sie nicht geahnt, daß ihre stumme, unergiebige Liebe Feindseligkeit hervorgerufen hatte. Und Trixie hatte es gutgetan, ihre Freundschaft zurückzuweisen. Sie ' merkte, wie Arno sie besorgt musterte, und rang sich ein Lächeln ab.
Arnos Besorgnis - und er war immer und wegen allem besorgt - umfaßte gar manches. Die Tatsache, daß sein Blick nur auf Janet fiel, war eher dem Zufall als der Absicht zuzuschreiben. Das größte Kopfzerbrechen bereitete ihm selbstverständlich der Mord. Wie die meisten Kommunenmitglieder hielt er Gamelin für schuldig und wußte nun nicht zu sagen, ob der Tod des Mannes ein Segen oder ein Fluch war. Er war gut, falls die Polizei ebenfalls von seiner Schuld überzeugt war. In diesem Fall bestand keine Notwendigkeit, eine Gerichtsverhandlung anzuberaumen. Und in diesem Fall wurde die Kommune nicht zum Dreh- und Angelpunkt öffentlicher Spekulationen. Er war schlecht, wenn sie ihn nicht für schuldig hielt, weil dies ! eine Untersuchung nach sich ziehen und der Gemeinschaft noch größeren Schaden zufügen würde, als das ohnehin schon der Fall war.
Und jetzt war da diese seltsame Sache mit Trixie. Daß sie so heftig auf Guys Dahinscheiden reagiert hatte, machte Arno sehr zu schaffen. Das Unerklärliche oder plötzliche Gefühlsausbrüche, vor allem solche, die ihm unlogisch erschienen, setzten ihm besonders zu. Immerhin hatte sie den Mann kaum gekannt. Als er hörte, wie Janets Hand mit voller Wucht auf die rote Wange klatschte, verflog seine Freude darüber, daß er endlich, nach so langer Zeit, seinen letzten Koän gelöst hatte. Er erkannte, mit welcher Freude er unter normalen Umständen den anderen die großartigen Neuigkeiten mitgeteilt hätte, und empfand somit den Verlust seines geliebten Lehrers um so schmerzlicher. Arno konzentrierte sich wieder auf die Unterhaltung. Heather war offensichtlich gerade dabei, die erste seiner Sorgen laut zu formulieren.
»Wenn wir nur wüßten, was sich zwischen den beiden gestern abgespielt hat.«
»Laut Konfuzius heißt Wissen, zu wissen, daß Wissen nicht Wissen ist«, wandte Ken ein. Er schlug einen alterslosen weisen Ton an und zog die Haut an seinen Schläfen hoch, bis seine Augen die Form von Mandeln hatten.
»Kein Wunder, daß er konfus war«, erwiderte Janet.
Auf die Tragödie vom vorigen Abend wurde nicht eingegangen. Vielleicht hatten alle das Gefühl, daß Spekulationen bei Suhami, die gerade damit beschäftigt war, den Spinat zu waschen, Bestürzung hervorrufen würden. Heather brachte einen tröstenden Gedanken zum Ausdruck.
»Heute morgen habe ich im Obstgarten meditiert. Saß ganz still und ruhig da und rief wie jeden Samstag die gelbe Flamme der Kassiopeia an... ihr werdet nie erraten, was passiert ist.« Alle am Tisch sitzenden Kommunenmitglieder warteten darauf, daß sie fortfuhr. »Eine wunderhübsche Biene setzte sich auf den Klee, ganz dicht neben meiner Hand. Ein richtiges Prachtstück. Sie verharrte einfach dort, schlug mit ihren kleinen Flügeln, als - und ihr dürft das gern als pneumatische Synthese bezeichnen, wenn ihr wollt - versuche sie, mir etwas zu sagen. Nun, ich dachte so bei mir, wer nichts wagt, der nichts gewinnt, und streckte die Hand aus, und die Biene erlaubte mir, mit meinem kleinen Finger über ihr Fellchen zu streichen. Wenn das nicht absolut unglaublich ist, was dann?«
May sagte: »Was wollte sie dir deiner Einschätzung nach damit sagen, Heather?«
»Ich denke - und ich halte das für eine ziemlich bodenständige Auslegung, okay? -, ich deutete die Situation dahingehend, daß ätherische Reste seines Astralkörpers immer noch vorhanden sind, da die Verwandlung des Meisters erst so kurze Zeit zurückliegt. Wer sagt denn, daß auf den Flügeln der Biene keine Spuren davon waren? Diese liebe, kleine, fellbezogene Kreatur spendete mir großen Trost.«
»Das könnte durchaus möglich sein«, fand May. »Gewiß würde der Meister, wenn er denn könnte, uns genau dies vermitteln wollen.«
»Vielleicht«, sagte Suhami und tupfte die grünen Blätter gerade mit einem Küchentuch ab, »war die Biene der Meister. Eine Reinkarnation.«
Ken und Heather tauschten amüsierte Blicke aus. Ken sagte: »Ich glaube kaum, daß ein überragender Geist, nachdem er ein Leben lang seinen Mitmenschen untertänigst gedient hat, als Insekt wiedergeboren wird.«
»Du kannst gleich mal abschwirren«, flüsterte Christopher, der den Spinat in einen Eisentopf packte. Suhami mußte lachen.
»Heather hat recht«, sagte May, »in bezug auf die Materiereste. Ich habe heute morgen dasselbe gespürt. Unter meinem Fenster schnatterte eine Gruppe Elohim. Wir müssen uns vor Bosheit in acht nehmen. Die sind doch immer darauf aus, eine Aura anzuzapfen. Ach je...« Sie schob den Stuhl zurück. »Es ist gleich zwölf. Ich muß los und Felicity ein Bad einlassen. Janet, könntest du womöglich an meiner Stelle das Mittagessen zubereiten?«
»Kein Problem.«
»Laßt uns lieber unsere Pflichten erledigen«, sagte Arno zu Ken. »Ich glaube, wir beide haben heute Gartendienst.«
»Mein Bein setzt mir ganz schön zu, Arno.«
»Nun... du kannst ja harken.«
»Beim Bücken scheint sich der Schmerz nur noch zu verschlimmern.«
»Hast du jetzt nicht nur Beinprobleme, sondern auch noch Rückenschmerzen?« fragte Janet ziemlich spitzfindig.
Ken bedachte sie mit einem nachsichtigen Lächeln. Die arme alte Jan projizierte wieder einmal. Hätte die Gruppe nach ihrem Eintreten in die Gemeinschaft das Pendel bemüht, wie er das vorgeschlagen hatte, wären sie wenigstens vorgewarnt gewesen. »Oh, ich habe keine Probleme, mich zu beschäftigen.«
»Womit?«
»Hilarion hat mich auf die Inkarnation mehrerer Gottwesen vom Pluto vorbereitet. Ich habe die Absicht, mich zur Vorbereitung für einen längeren Zeitraum unter meine Chela-Pyramide zu setzen. Später möchte ich den großen Bonsai-Baum stutzen.«
10
Ian Craigies Habseligkeiten waren freigegeben worden. Troy hatte sie abgeholt. Der Bericht der Polizisten, die zuerst am Tatort eingetroffen waren, mußte auch bald fertig sein. Barnaby hatte darauf spekuliert, daß die Gerichtsmediziner mit etwas Handfestem aufwarteten, mit dem er die bisherigen Indizienbeweise gegen Gamelin untermauern konnte. Falls es nichts Handfestes gab oder sich gar herausstellte, daß er unschuldig war, sah sich der Chief Inspector gezwungenermaßen mit einem Fall konfrontiert, der seit langem einer der interessantesten, aber auch kompliziertesten war.
Als er hörte, daß sein Hauptverdächtiger entlastet wurde, war seine erste Reaktion überwältigende Erleichterung. Vergangenen Abend war er schon kurz davor gewesen, den Mann verhaften zu lassen. Ein Todesfall im Gefängnis zog berechtigterweise eine langwierige und sorgfältige Untersuchung nach sich, um der inzwischen immer lauter werdenden Kritik wegen »Polizeibrutalität« entgegenzutreten. Man stelle sich nur mal vor, was Guy Gamelins Tod in diesem Fall nach sich gezogen hätte: erstklassige Rechtsanwälte, eine Riege hochrangiger Gesetzeshüter, Heerscharen von Spitzenjournalisten und Fotografen, Anfragen im Unterhaus, ... Barnaby empfand tiefe Dankbarkeit, daß Gott ihn vor einem gravierenden Fehler bewahrt hatte.