»Er verabscheute jedwede Zurschaustellung von Gefühlen. In seinen Augen war das mit Schwäche gleichzusetzen.«
»Klingt alles ein bißchen traurig.«
»Vergeude nicht deine Gefühle an ihn«, meinte Suhami. »Er hat das Messer genommen, vergiß das nicht. Ach - räum die verdammten Sachen weg. Nein - warte...« Sie nahm die Armbanduhr und hielt sie ihm hin. »Hier - nimm sie.«
»Wie bitte?«
»Nimm sie.« Fassungslos starrte er sie an. »Nur zu.«
Christopher schluckte. Langsam, als könne er es nicht verhindern, wanderte sein Blick zu der Uhr hinüber. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht, sie ist so unglaublich... so...« Er wußte wohl, daß seine Gier sich auf seinem Gesicht spiegelte, doch ändern konnte er daran nichts. »Wem gehört sie nun?«
»Mir. Er hat immer behauptet, er würde alles mir vermachen.«
»Du kannst doch nicht einfach...« Seine Gier drängte ihn, den Arm zu heben, die Finger, die Hand auszustrecken.
»Gewiß - ich kann.« Sie machte einen Satz, drückte ihm die Uhr in die Hand und wich wieder zurück.
»Bist du sicher?«
»Klar doch.« Sie wich immer weiter von ihm zurück. »Verkauf sie, wenn du willst. Kauf dir das, was die Agenten einen guten Ruf nennen. Nur trag sie bitte nicht, wenn du dich in meiner Nähe auf hältst.«
Christopher stopfte die Uhr in seine Tasche. Sie wog nichts. Die Größe des Geschenks verschlug ihm die Sprache. Auf der anderen Seite bestürzte ihn die beiläufige Art, mit der sie es ihm gegeben hatte. Suhami hatte ihm die Uhr praktisch unter die Nase gehalten. War die ganze Angelegenheit eine Art Prüfung gewesen, und hatte er versagt, indem er das Geschenk angenommen hatte? Zweifelsohne ging von ihr eine gewisse Hochspannung aus, die er nicht nachvollziehen konnte. Mit einem Mal bildete er sich ein, daß die Uhr eine Art Abschiedsgeschenk gewesen war, daß sie beschlossen hatte, ihren eigenen Weg zu gehen, ohne ihn. Diese Einschätzung stimmte ihn -nicht nur wegen dieser beleidigenden »Abfindung« - zornig. Er zog Suhami einem Zeitmesser in jedem Fall vor, egal, wie außergewöhnlich der auch sein mochte.
Nach drei Uhr fuhren Barnaby und Troy vor Manor House vor. May begrüßte sie. In ihrem mehrfarbig gestreiften Djeballa, der von einem Kupfergürtel zusammengehalten wurde, wirkte sie unerhört extravagant.
»Ah - da sind Sie ja.« Als hätte man sie persönlich vorgeladen. »Ich freue mich sehr über Ihr Kommen, denn ich muß Ihnen etwas sagen.«
»Ach ja, Miss Cuttle?« Barnaby folgte ihr in die Halle. Bis auf das leise Klappern von Geschirr herrschte im Haus Stille. Ihm fiel das farbenfrohe, durchs Oberlicht einfallende Licht auf, und er gab einen Kommentar dazu ab.
»Wir aalen uns darin, Chief Inspector. Wir laden unsere Psyche damit auf. Wenigstens einmal pro Tag. Unterschätzen Sie niemals die heilende Kraft der Farben. Vielleicht möchten Sie...«
»Ein anderes Mal. Was wollten Sie -?«
»Nicht hier.« Schnellen Schrittes marschierte sie weiter und gab ihnen mit hocherhobenem Arm und wedelnder Hand zu verstehen, daß sie ihr folgen sollten. Ihr Anblick ließ Barnaby an den Kommandoturm eines Unterseebootes denken.
Heute fiel ihr Haar locker auf die Schultern herab. Eine Wolke aus Korkenzieherlocken, Wellen, Kringeln, begrenzt von einem zerzausten Pony, der bei einer nicht ganz so rubenesken Gestalt keck gewirkt hätte. Ihr zu folgen war kein Problem. Tatsächlich schien die magnetische Anziehungskraft ihres fließenden Gewandes gar keine andere Möglichkeit zuzulassen. Sie scheuchte sie in ein Zimmer, warf kurz einen Blick den Flur hoch und runter und schloß dann die Tür.
Nach dieser aufwendigen Einleitung rechnete Barnaby damit, daß May sofort einen ganzen Schwall wichtiger Informationen ausspucken würde, doch sie wartete ein wenig, rümpfte ihre schöne römische Nase und bewegte ihre zarten Nasenflügel. Schließlich sagte sie: »Hier gibt es eine ganze Reihe negativer, unerhört negativer Schwingungen.« Ihr Blick tanzte zwischen den beiden Männern hin und her. »Ich nehme an, sie gehen von Ihnen aus.« Troy zog die Augenbrauen hoch. Cool wie immer. »Ich muß Sie um etwas Geduld bitten, bis ich die positiven Ionen wiederhergestellt und meinen Vitalitätsindex erhöht habe.«
Sie setzte sich an einen kleinen runden Tisch, auf dem eine orangefarbene Chenilledecke mit Fransen lag, stützte die Ellbogen auf dem Rand ab und schloß die Augen. Mehrere Minuten verstrichen.
Ist jemand zu Hause? fragte sich Troy. Er hoffte inständig, daß ihm nicht seine Tante Doris erschien. Er hatte ihr fünfzig Pfund geschuldet, als sie von einem Ford Sierra überfahren wurde. Sie war extrem spitzzüngig gewesen.
»Oh! Gleißende helle Strahlen fließt in mich! Erquickender allumfassender Frieden entfalte dich und schaffe Harmonie unter Vestas alles sehenden Augen. Ida und Pingala - kreuzt meine Schwingungsknoten.«
Bei den ersten laut ausgesprochenen Worten hätte Troy fast einen Satz gemacht. Seine Schuhe musternd, weigerte sich Barnaby beharrlich, den Blick seines Sergeants zu erwidern. In einer Zimmerecke registrierte er einen größeren Tisch, auf dem mehrere Flaschen mit heller Flüssigkeit standen. Zweifelsohne Futter für die Leichtgläubigen. May atmete ein paarmal hintereinander laut aus und ein, blickte sich dann um und bedachte die beiden Beamten mit einem warmen, freundlichen Lächeln.
»Ja. Ist es jetzt nicht besser? Fühlen Sie sich wohl?« Barnaby nickte. Troy stierte weiterhin wie gebannt aus dem Fenster.
»Heute nacht habe ich nicht geschlafen, wie Sie sich bestimmt vorstellen können, aber nach dem Mittagessen habe ich mich kurz hingelegt und bin weggedöst. Während dieser kurzen Ruhepause erhielt ich einen Besuch vom grünen Meister Rakowsky. Er erteilt Ratschläge in juristischen Fragen, wie Sie wahrscheinlich wissen dürften, und er schlug mir vor, mit Ihnen zu sprechen.«
»Ich verstehe«, sagte der Chief Inspector. Die Selbstverständlichkeit, mit der May davon ausging, daß er in diesen Dingen bewandert war, irritierte ihn sehr.
»Mein Anliegen steht nicht in Verbindung mit der Wiedergeburt des Meisters, sondern mit einer ganz anderen Sache, die mir schon seit längerem Kopfzerbrechen macht und über die ich gerade in dem Augenblick, als der Meteor vom Dach fiel, mit Christopher reden wollte. Dann ist es mir aber wieder entfallen. Zu jenem Zeitpunkt begriffen wir nicht, daß das ein Vorbote war.« Barnabys nichtssagende Miene als Unverständnis auslegend, fügte sie freundlich hinzu: »Das heißt ein Omen, wissen Sie.«
»Ja«, antwortete der Chief Inspector.
May blickte zum Fenster hinüber, an dessen Rahmen Troy seinen Kopf preßte. »Fühlt sich Ihr Sergeant nicht wohl?«
»Es geht ihm gut.«
»Ich fürchte«, fuhr May fort, »ich kann meine Vogel-Strauß-Mentalität nicht länger aufrechterhalten. Hier stimmt ganz eindeutig irgend etwas nicht.«
Großer Gott, dachte Barnaby, da steckt sie bis zum Hals in Mord und begreift nun endlich, daß was nicht stimmt.
»Alles fing an, nachdem Jim Carter uns verlassen hat.«
»An den Namen entsinne ich mich nicht, Miss Cuttle.«
»Nein. Er verstarb, ehe Sie hier eintrafen.«
Darauf ließ sich Barnaby erst gar nicht ein. »Und wer war er?«
»Oh, ein guter Mensch. Eines unserer ältesten Mitglieder. Er hatte einen Unfall - einen tödlichen Unfall. Es überrascht mich, daß Sie nichts darüber wissen.«
»Tödliche Unfälle fallen nicht in unseren Zuständigkeitsbereich.«
»Es gab eine Untersuchung.« May musterte Barnaby in einer Art und Weise, als habe er heimlich im Heuschober geraucht. »Ein, zwei Tage nach seinem Tod war ich auf dem Weg in die Waschküche und wurde Zeuge einer Unterhaltung. Oder zumindest eines Teils einer Unterhaltung. Die Tür zu des Meisters Heiligtum stand einen Spalt offen. Jemand sagte: >Was hast du getan? Falls sie beschließen, eine Obduktion vorzu-< Dann senkten sie die Stimmen und schlossen die Tür.«