»Haben Sie gesehen, wer da gesprochen hat?«
»Nein, ein Wandschirm versperrte mir die Sicht.«
»War es Ihrer Ansicht nach Mr. Craigie, der da sprach?« Beim Reden beugte Barnaby sich vor. Troy hörte auf, das Fenster zu massieren und wandte sich mit fragendem Blick den anderen zu. Anspannung machte sich im Zimmer breit.
»Keine Ahnung. Die Stimme klang ziemlich gepreßt. Als die Untersuchung anberaumt wurde und der Bericht des Pathologen vorlag und alles in Ordnung zu sein schien, nahm ich an, ich würde den Worten zu große Bedeutung beimessen. Ein paar Wochen später weckte mich mitten in der Nacht ein Geräusch. Leises Poltern, als verrücke jemand vorsichtig Möbel, und Knarzen wie beim Öffnen und Schließen von Schubladen.«
»Woher kamen die Geräusche?« wollte Troy wissen.
»Von nebenan - aus Jims Zimmer. Es war nicht verschlossen, wieso also diese seltsame Heimlichtuerei? Warum ging der Betreffende nicht einfach bei Tag rein?«
»Ein Einbrecher?« schlug Barnaby vor.
»Ganz gewiß nicht«, meinte May und schilderte, wie die Person am Haus entlanggelaufen war.
»Warum haben Sie nicht die Polizei verständigt?«
»Nun, wissen Sie, so handeln wir hier nicht.« May warf Troy ein tröstendes Lächeln zu. »Ich bin sicher, Sie sind sehr kompetent, aber diese Reaktion hätte womöglich großen psychischen Schaden angerichtet.«
»Glauben Sie, daß er - oder sie - beim Wegrennen gehört hat, wie Sie Ihr Fenster öffneten? Ich nehme an, die betreffende Person wußte, daß Ihr Zimmer nebenan lag.«
»Durchaus möglich.« Sie warf ihm einen Blick aus ihren strahlend hellen Augen zu. »Ist das wichtig?«
Auf diese Frage reagierte Troy mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Fassungslosigkeit. Diese Frau fuhr einen Wagen, kümmerte sich um die finanziellen Angelegenheiten der Kommune, handhabte alle Bankgeschäfte und umsorgte gelegentlich eine stattliche Anzahl von Besuchern. All diese Fähigkeiten gingen Hand in Hand mit dem Glauben an Erzengel, außerirdische Hilfe in häuslichen und juristischen Dingen und an einen astralen Messerwerfer, der den großen Meister mühelos in eine andere Dimension befördert hatte. Er beobachtete, wie sie seinem gequält dreinblickenden Chief sachte die Hand auf den Arm legte.
»Fühlen Sie sich nicht ganz wohl, Inspector Barnaby?«
Barnabys Räuspern hörte sich wie ein trockenes Scharren an. May machte einen besorgten Eindruck. »Ein zugeschnürter Kehlkopf weist manchmal auf gravierende Nierenprobleme hin.« Die Gelassenheit, mit der er auf die formidable Diagnose reagierte, ließ sie fortfahren: »Es würde keine Mühe machen, für Sie kurz den Passionsblumeninhalator zu holen.« Barnaby zog sich unwiderruflich in sich zurück.
So was kann er nun gerade überhaupt nicht ausstehen, konstatierte Troy. Dieser alte Teufel. Müßte einen Gang runterschalten.
Barnaby spürte Mays Enttäuschung. Traurig schüttelte sie den Kopf, doch ihre opulente Selbstsicherheit nahm keinen Schaden. Es war nicht von der Hand zu weisen, daß sie zu den Menschen gehörte, die stets anderen helfen mußten. Er zweifelte nicht an der Echtheit ihrer Freundlichkeit, vermutete jedoch, daß sich ihre Anteilnahme dergestalt äußerte, daß sie das vorliegende Problem gemäß ihrer eigenen Prinzipien anpackte und sich in Wahrheit nicht bemühte, den Nöten des Hilfesuchenden gerecht zu werden.
»Dürften wir möglicherweise einen Blick in Mr. Carters Zimmer werfen?«
»Da gibt es nichts zu sehen. All seine Sachen sind weg.«
»Nichtsdesto trotz...«
»Ich möchte Ihnen einen Rat geben«, sagte sie und setzte sich in Bewegung, »der Ihnen helfen dürfte. Ziehen Sie ein Tausendschön mit der Wurzel heraus, an einem Freitag, an dem Vollmond ist, ansonsten funktioniert es nicht. Wickeln Sie die Pflanze in ein weißes Tuch, es muß aus Leinen sein, und tragen Sie sie auf der Haut. Fortan können Kugeln Ihnen nichts anhaben.«
»Zu diesem Zweck gibt die Polizei Westen aus, Miss Cuttle.«
»Sieh an, sieh an. Taugen die was?« Auf einmal war sie richtig interessiert. »Tragen Sie jetzt auch eine kugelsichere Weste? Dürfte ich eventuell einen Blick darauf werfen?«
Mays Augen funkelten, ihre Bernsteinohrringe ebenfalls. Überraschenderweise mußte sie feststellen, wie ungemein aufregend es war, an einer polizeilichen Ermittlung beteiligt zu sein. Sie fragte sich, ob auf Windhorse, wo es weder Fernsehen, Radio noch Druckerzeugnisse profaner Natur gab, nicht nur alle negativen Schwingungen ausgemerzt wurden, sondern darüber hinaus eine ganze Palette lebendiger Farben. Ich sollte öfter ausgehen, dachte sie, und schämte sich auf der Stelle für ihren Mangel an Loyalität.
»Würden Sie sagen, daß ich Ihnen >bei Ihrer Untersuchung behilflich< bin, Inspector?« Sie blieb vor dem Zimmer neben ihrem stehen. »Ich habe mich des öfteren gefragt, was mit diesen Worten gemeint ist.«
Kaum hatte sie dies gesagt, öffneten die Herren die Tür, bedankten sich kurz und knallten ihr die Tür vor der Nase zu.
Barnaby und Troy schauten sich um. Das Zimmer war so ordentlich wie eine Seemannskajüte. Ein Minimum an Möbeln. Zwei helle Eichenstühle mit hohen, geraden Lehnen, ein schmales Bett, ein Kartentisch, ein Schrank mit einer leeren Schuhschachtel (das Etikett kündete von eleganten italienischen Slippern) und eine Kommode mit mehreren Schubladen. An der gegenüberliegenden Wand war ein einfaches Holzbrett mit drei Haken angeschraubt worden. Die Bettdecke war aus weißem grobem Baumwollstoff gefertigt, wie man sie auf Eisenbettgestellen in Männerwohnheimen fand. Der Bettüberwurf war krankenhausmäßig umgeschlagen und straff über die Matratze gespannt. Die strenge Zurückhaltung paßte gut zum restlichen Raum, in dessen puritanischer Schlichtheit eine Falte extrem wollüstig gewirkt hätte. An einer der Wände hing ein Poster mit folgendem Ausspruch: Gott ist ein Kreis, Dessen Zentrum überall und dessen Grenzen nirgendwo sind.
Troy kontrollierte die Schubladen. Leer. Barnaby ließ seinen Blick schweifen und wunderte sich über den augenfälligen Beweis, daß es eine direkte Verbindung zwischen physischer Unbequemlichkeit und spiritueller Verwirklichung gab. Er dachte an Bettelmönche in Büßerhemden, an Selbstgeißelung, an Yogis, die jahrelang in Höhlen zubrachten, an Märtyrer, die sich in die Flammen stürzten oder den gefräßigen Mäulern großer Raubkatzen auslieferten. Diese Form der Lebensführung kam dem Inspector sinnlos vor. Er liebte seine Bequemlichkeiten. Den vielbenutzten Sessel nach einem langen Tag, Musik, die aus offenstehenden Terrassentüren schallte. Er liebte es immer noch, mit Joyce ins Bett zu gehen. Oder an einem warmen Feuer zu sitzen und die klaren Konturen ihres Profils zu beobachten.
Dem Chief Inspector war es nicht gegeben, sich länger mit philosophischen Themen zu beschäftigen. Was nicht nur daran lag, daß es ihm an der nötigen Zeit mangelte, sondern auch dem Umstand zuzuschreiben war, daß derlei Gedanken in seinen Augen unerhört hochtrabend waren. Er gab sich Mühe, ein anständiges Leben zu führen. Er sorgte für Frau und Tochter, ging einer anständigen Arbeit nach und unterstützte ein halbes Dutzend karitativer Einrichtungen. Er hatte wenig Freunde, da er seine knapp bemessene Freizeit gern mit seiner Familie verbrachte, doch die Freunde, die er besaß, konnten sich in schwierigen Zeiten auf seine Unterstützung verlassen. Insgesamt hatte er es - seiner eigenen Einschätzung nach - nicht schlecht getroffen. Eigentlich sogar so gut, daß die Waagschale - sollte es so einen hinterlistigen metaphysischen Witz wie das Jüngste Gericht geben - in seine Richtung ausschlug.
»Nicht viel für ein ganzes Leben, nicht wahr, Sir?« Troy war an das Bücherregal getreten. Drei Holzbretter, die auf einer ‘ Reihe amethystfarbener Steine aufgeschichtet waren. Er kniete sich hin, um ein Buch aus dem untersten Regal hervorzuziehen. »Hier gibt es einen Schinken über Wölfe.« Er reichte es weiter. »Meine Biographie von R. R. Hood.« Er kicherte.