»Das ist einfach Pech.« Mit dem Kinn deutete er auf den Independent. »Er hat sie gerade kennengelernt, als wir miteinander zum Mittagessen gegangen sind. War echt überwältigt von ihr. Quasselte die ganze Zeit über sie.«
»Dieses Mittagessen fand, wie ich annehme, statt, bevor Sie nach Manor House zogen?«
»Kurz davor. Ich lief Chris in der Jermyn Street über den Weg. Er hatte gerade ein paar Hemden bei Herbie Frogg’s gekauft. Ich war auf dem Weg zu einem billigen Laden, um ein paar Würstchen zu kaufen, was Ihnen eine Vorstellung von der fast zu vernachlässigenden Diskrepanz unserer Einkommen geben dürfte. Es stimmt, daß er und ich früher die gleiche Schule besucht haben. Und er war ein mieses kleines Arschloch. Mischte sich immer in die Gespräche anderer ein, in deren Jobs, zwängte sich in deren Betten.«
»Bleiben Sie beim Thema.« Barnaby fiel es leicht, zorniger zu klingen, als er war. Eine durchaus nützliche Begabung. Der falsche Christopher Wainwright fuhr fort:
»Wir gingen zusammen auf einen Drink ins Cavendish, und dann schlug er vor, zusammen bei Simpson’s zu Mittag zu essen. Beim Essen berichtete er mir ausführlich von seinem rasanten Aufstieg in der BBC und von diesem Trip >zum Dach der Welt<, wie er es nannte, obgleich ich immer der Meinung war, damit wäre Tibet gemeint. Irgendwann begann er über Poppy zu plaudern. Ich hatte keine Chance, auch etwas zu sagen, darum schaltete ich einfach auf Durchzug und konzentrierte mich auf die köstlichen Proteine. Zum Nachtisch bestellten wir Trifle, und als die Rechnung kam, holte er sein Jackett - wir belegten eine der Nischen an der Wand - und konnte seine Brieftasche nicht finden. Behauptete, sie beim Hemdenmacher vergessen zu haben. Da saß ich nun mit einer Rechnung über achtundvierzig Pfund. Ich war stinksauer, weil ich gerade blank war. Vor allem aber, weil ich sicher war, daß er sie nicht verloren hatte. Der ist schon in der Schule knickrig gewesen. Hat alles weggeschlossen - sogar seinen Waschlappen.«
Barnaby beugte sich vor, ohne die Ellbogen vom Tisch zu nehmen. Wie schlecht die Luft in seinem Büro war, registrierte er kaum. Mit der linken Hand machte er eine ermunternde Bewegung und lud »Christopher« zum Weiterreden ein.
»Ich mußte dem Golden Windhorse unbedingt einen Besuch abstatten. Um mich im Haus umzusehen, die Leute kennenzulernen. Ihre Zimmer zu durchsuchen und ihre Habseligkeiten, falls nötig. Unter meinem eigenen Namen wäre mir das " nicht möglich gewesen.«
»Und wie lautet der?«
»Andrew Carter.«
Troy warf seinem Chef einen Blick zu und beobachtete, wie dieser den Namen aufnahm, sich zurücklehnte und entspannte. Als wäre nun der Punkt erreicht, wo es keine Umkehr gab, wo die Geschichte ohne sein Zutun ihren Lauf nahm.
»Jim Carter war mein Onkel. Ich weiß nicht, ob der Name Ihnen was sagt.«
»Er ist mir bekannt, ja.«
»Ich glaube, daß er ermordet wurde. Aus diesem Grund halte ich mich auf Windhorse auf. Um rauszufinden, wieso. Und von wem.«
Barnaby sagte: »Schweres Geschütz.«
»Nicht, wenn Sie meine Beweggründe erfahren.« Er zog einen Umschlag hervor und eine Fotografie. »Mein bona fide, wenn’s recht ist.«
Er reichte das Foto weiter. Darauf abgebildet war ein lachender blonder Junge, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, auf einem Esel. Ein Mann mittleren Alters, ebenfalls blond, hielt die Zügel. Der Junge blickte geradeaus. Der Mann, der vorsichtig und ängstlich wirkte, studierte die Miene des Jungen, als spende sie Sicherheit und Freude.
»Da besteht doch eine gewisse Ähnlichkeit.« Barnaby gab das Foto nicht zurück. »Wenn auch nur vage.«
»Haben Sie deshalb Ihr Haar gefärbt, Sir?« Troy stand nun hinter dem Schreibtisch und nahm das Foto in die Hand.
»Jesus, ist das so offensichtlich?« Nervös strich er über den dunklen Schopf. »Ja. Ich dachte, dann wären die Ähnlichkeiten weniger augenfällig. Er hat mich großgezogen - mein Onkel nachdem meine Eltern umgekommen sind. Er war unglaublich nett. Konnte es sich nicht leisten, mich weiterhin nach Stowe zu schicken, aber ansonsten bekam ich alles, was ich wollte. Selbstverständlich war mir nicht bewußt, wie sehr er seine eigenen Bedürfnisse zurückstellte. Kinder merken so was nie.« Er streckte die Hand nach dem Foto aus. »Ich war ziemlich vernarrt in ihn.«
»Ich würde davon gern eine Kopie machen, Mr. Carter.«
Andrew zögerte. »Das ist das einzige Bild, das ich besitze.«
»Sie werden es zurückkriegen, bevor Sie gehen.« Barnaby gab das Foto Troy, der damit abzog. »Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Ist schon eine Weile her. Unsere Beziehung war eng, doch wir sahen uns nicht sehr oft, nachdem ich ausgezogen war. Ich war achtzehn. Wir hatten eine Auseinandersetzung. Ich hatte eine Beziehung zu einer wesentlich älteren, verheirateten Frau. Das war das einzige Mal, daß wir einen echten Konflikt hatten. Er hielt mein Verhalten für unmoralisch. War ein wenig altmodisch. Er war richtig sauer. Seine Enttäuschung löste bei mir Schuldgefühle aus, und da lief ich weg. Der Streit dauerte keine fünf Minuten - und die Affäre auch nicht -, aber von da an wohnte ich nur noch kurzfristig bei ihm. Ich war ein bißchen so was wie ein Rumtreiber, fürchte ich. War gern unterwegs und arbeitete, wo und wann sich die Gelegenheit bot, manchmal sogar im Ausland. Ich half bei der Traubenernte in Italien und Frankreich, zog weiter, lebte dann auf einer Skihütte in den Alpen. Arbeitete bei einem Zirkus in Spanien - ausgerechnet als Löwenbändiger, aber das waren arme, zahnlose Tiere. Ging in die Staaten - konnte keine Arbeitserlaubnis kriegen. Habe mich dort eine Weile lang illegal aufgehalten und bin dann zurückgekommen. Verdingte mich eine Zeitlang auf der Golden Mile in Blackpool, auf dem Rummelplatz. Alles ziemlich pittoresk. Oder schäbig, je nachdem, wie alt man ist und wie tolerant.«
»Sie hielten immer Verbindung zu Ihrem Onkel?«
»Aber sicher doch. Ich schrieb regelmäßig. Und besuchte ihn immer zwischen zwei Einsätzen. Er päppelte mich dann ein bißchen auf. Hielt mir niemals Vorträge, obwohl ihn meine Entwicklung vermutlich etwas enttäuscht hat. Akzeptierte mich als das, was ich bin. Als schwarzes Schaf.«
Diese letzten Worte wurden so leise ausgesprochen, daß Barnaby sich anstrengen mußte, sie zu verstehen, doch Carters Miene sprach eine eindeutige Sprache. In seinen Augen loderte eine brodelnde Mischung aus Angst und Verzweiflung. Seine Kinnmuskeln verspannten sich in dem Bemühen, das Beben seiner Lippen zu besänftigen. Als Troy mit der Fotografie und neuem Kaffee zurückkehrte, gab Barnaby ihm mit einer herrischen Handbewegung zu verstehen, daß er warten sollte.
»Wann ist Ihr Onkel nach Windhorse gezogen?«
Carter atmete tief durch. Es dauerte einen Moment, bis er eine Antwort gab. Er vermittelte den Eindruck, sich mühsam zu wappnen für den nächsten Schritt, als konfrontiere ihn dieser mit der Quelle seines Elends.
»Er schrieb mir von seinem Eintritt in die Kommune, als ich in den Staaten war. Ich muß einräumen, daß ich nicht gerade überrascht war. Er ist nie verheiratet gewesen. Als Kind war ich darüber froh. Weil das bedeutete, daß ich ihn mit niemandem teilen mußte. Außerdem ist er schon immer ein wenig... ähm... einsiedlerisch gewesen. Zu bestimmten Tageszeiten bat er darum, in Ruhe gelassen zu werden, um einfach still dazusitzen. Ich nehme mal an, heute würde man das Meditieren nennen. Fast alle seine Bücher hatten einen religiösen oder philosophischen Inhalt. Bhagavad-Gita, Tagore, Pascal. Soweit ich weiß, beschäftigte er sich während meiner gesamten Kindheit mit diesen Themen. Die meisten stehen jetzt noch in seinem Zimmer auf Manor House. Hat mich echt fertiggemacht, als ich sie fand...«