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  »Sie wird jeden Augenblick zurückrufen.«

  »Dauert nicht länger als eine Minute.« Sofort setzte sich Ken kerzengerade hin, begann zu schielen, konzentrierte sich auf seine Nasenspitze und nahm Verbindung mit dem Intergalaktischen Weltverstand auf.

May war nicht ans Telefon gegangen, weil sie sich ins obere Stockwerk begeben hatte, um sich dort einer ihrer Ansicht nach aufwendigen und ganz wunderbaren Aufgabe zu widmen. Sie hatte sich vorgenommen, Felicity Gamelins Seele neu zu erwecken. May hatte ganz von vorn angefangen. Zuerst mußte die gute Frau körperlich wiederhergestellt werden.

  Felicitys magere Hand streichelnd und sie ins Licht ziehend, ließ May ihre ganze Energie (die nach den letzten beiden Tagen nicht gerade in Topform war) in die blasse, reglose Figur fließen. Sie arbeitete allein, zumal Felicity keinen eigenen Willen mehr zu besitzen schien. Sie lag einfach nur da, den stieren Blick auf die Decke gerichtet, und sah aus, als würde sie zusammenschrumpfen und sterben.

  Eine geschlagene halbe Stunde hatte May mit ihrer wohltönenden Stimme auf sie eingeredet, bis Felicity sich plötzlich umdrehte und sie mit ihren kalten, harten Augen, die in elfenbeinfarbenen Höhlen lagen, betrachtete.

  »Ich haßte ihn.«

  »Schhh.«

  »Ich haßte ihn. Warum freue ich mich nun nicht?«

  »Weil das nicht Ihrer wahren Natur entspricht.«

  Das war May sofort aufgefallen. Die leicht ramponierte Aura war überraschenderweise im Gleichgewicht. Ziemlich viel Pink und Grün, sogar ein wenig Blau. Ganz anders als bei diesem jungen Polizisten, der nur so von roten Tupfern übersät war. Der arme Junge hatte noch einen weiten Weg vor sich. May legte die Hand auf Felicitys Stirn und stellte sich vor, wie göttliche Liebe durch ihren Arm floß, durch ihre Finger, in Felicitys Körper drang und ihn heilte, ihm Segen brachte.

  »Danton nannte ihn den Krösus meiner mittleren Jahre.«

  »Ist Danton dein Freund?«

  »Nein.« Ihre Stimme klang hart. »Ganz gewiß kein Freund. Nur jemand, den ich früher einmal kannte.«

  Diese wenigen Worte schienen sie zu erschöpfen. Sie murmelte noch etwas, bevor sie den Kopf wieder in eine andere Richtung drehte. Es klang wie »Chaos«.

  »Unser Meister pflegte zu sagen, daß es in der Unordnung eine Ordnung gibt, und ich bin sicher, daß das stimmt. Ruhen Sie sich einfach aus, meine Liebe, liegen Sie still, und all der Schmutz, all das Unglück wird sich in Luft auflösen, und alles wird klar und strahlend werden. Sie sind vom Weg abgekommen, Felicity, doch wir werden ihn wieder für Sie finden.«

  Felicity ließ sich auf die Kissen fallen. Ihre Hand lag in der von May. Sie spürte, wie sie peu ä peu lethargischer wurde. Dieses Gefühl behagte ihr. Ihre Gliedmaßen wurden so schwer, daß sie den Eindruck hatte, durch die Matratze zu fallen. Mays Stimme kam und ging, tief, rhythmisch, beruhigend wie die Gezeiten des Meeres. Felicity schlief ein.

Arno zog für den Beilagensalat Radieschen aus der Erde. Manchmal hielt er inne, um Christopher ermutigend zuzuwinken, der auf der anderen Seite des Gartens die Stangenbohnen befestigte. Die Radieschen waren kleine, schrumplige Dinger und hatten nicht mal entfernt Ähnlichkeit mit den glänzenden roten Kugeln auf dem Saattütchen. Eins war von winzigen Schuppen überzogen und gehörte eigentlich ins Feuer. Er bemühte sich, die anderen auf einem Holzteller, der extra dafür angeschafft worden war, auszulegen, aber egal wie er sie drehte, am Ende schaute immer die bemitleidenswerte Seite nach oben.

  Um sich von all den traurigen Ereignissen abzulenken, hatte er versucht, ein neues Haiku zu komponieren, mit dem er wieder nicht zufrieden war. In dem Wissen, daß Perfektion unerreichbar war, erschien ihm dieses letzte (»Stürmisches Wesen, an der Brust deines Sklaven, ruhe in Frieden«) ganz besonders unpassend. Nicht einmal ihr Name kam darin vor.

  Heute hatte er sie kaum zu Gesicht bekommen. Andererseits begriff er, daß Felicity mehr auf sie angewiesen war als er. Jeder konnte sehen, wie krank sie war. Doch auch Arno war es schwer ums Herz. Vor dem Zubettgehen und gleich nach dem Aufstehen hatte er gebetet, ohne auf Trost zu hoffen und schon gar nicht, um dem Herrn zu huldigen. Eigentlich betete er eher aus Gewohnheit und weil er es seiner Mutter versprochen hatte. Vergiß nie, hatte sie ihm eingebleut, daß Jesus dich liebt. Persönlich hatte er das nie so empfunden, und selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte er wenig Trost daraus gezogen, denn wer wollte schon von jemandem geliebt werden, der jeden liebte? Und dann auch nur, weil es seine Aufgabe war.

  Diese Gedankenkette ließ ihn wieder an den Tod des Meisters denken, den er kurzzeitig verdrängt hatte. Wie schrecklich das gewesen war. Und wie sehr sich alle innerhalb dieser kurzen Zeit verändert hatten. In Worte faßte das niemand. Keiner blickte dem anderen ins Gesicht und sagte: »Du hast dich ziemlich verändert.« Aber das hatten sie. Wie, das konnte Arno nicht genau beschreiben. Die Mitglieder der Kommune kamen ihm jetzt kleiner vor... geschrumpft. Ihre Menschlichkeit erschien diffuser, ihre Güte war weniger greifbar, ihre Vitalität schwand. Vielleicht sagte das Gedicht dies aus. »Der Tod eines jeden...«

  Arno zwickte sich. Sein Zen-Bewußtsein schien in den letzten achtundvierzig Stunden stark nachgelassen zu haben. Er lebte nicht den Augenblick, sondern in der jüngeren, furchtein-flößenden Vergangenheit. Das Bild seines sterbenden Meisters war in seine Netzhaut eingebrannt. Das konstante Kommen und Gehen der Polizei versetzte ihn in Unruhe. Gestern hatten sie das Haus durchsucht. Heute waren sie wieder aufgetaucht und hatten alle möglichen Geschirrhandtücher mitgenommen. Vor allem Tims Wohlergehen bereitete ihm große Sorgen. Wenn der Junge sich ängstigte, wer wußte da schon, was er sagte? Jener Chief Inspector hatte ihn überraschenderweise nur kurz und vorsichtig vernommen, aber er gehörte garantiert nicht zu der Sorte, die einen zweiten Versuch scheute.

  Nicht zum ersten Mal erhaschte Arno einen Blick auf Heather. Innerhalb der letzten Stunde war sie wenigstens dreimal die Zufahrt auf und ab gelaufen. Zuerst meinte Arno, das sei Teil ihrer täglichen körperlichen Ertüchtigung, bis ihm auffiel, wie sie auf die Straße trat und die High Street rauf- und runterblickte. Eine Entwicklung im Mordfall. Wenn dem so war, dann war es seine Pflicht, sich wieder ins Haus zu begeben. Dazu hatte er allerdings nicht die geringste Lust. Hier draußen in der Sonne wirkten die Dinge etwas weniger bedrohlich. Davon ausgehend, daß man ihn schon rief, falls er gebraucht wurde, widmete sich Arno wieder seinem Gemüse und verpaßte die Ankunft des Wagens, der mit quietschenden Reifen durch das Manor-House-Tor fuhr.

  Gefaßt erwarteten Ken und Heather die Ankunft des Daily Pitch. Sie rechneten auch mit Fotografen, und als Vertreter des Golden Windhorse sahen sie es als ihre Aufgabe an, sich um sie zu kümmern.

  Glücklicherweise hatte Hilarion ihr Projekt abgesegnet. Der große Chohan hatte sie nicht nur eindeutig unterstützt, sondern großzügigerweise auch Erklärungen geliefert. Auf der anderen Zeite mußte Zadekiel wissen, daß das Wort »Geld« fest im pinkfarbenen, atomischen Zellularlicht manifester Neutralität eingebettet war. Einfach ausgedrückt, Geld konnte einem guten oder schlechten Zweck dienen. Fraglos durfte man darauf vertrauen, daß er und Tethys als panirdische und kosmische Wesen diese spezielle Verpflichtung kreativ bewältigten.

  Nachdem dieses Detail erst mal aus dem Weg geräumt war, hatten die Beavers die Lage unter Einbeziehung der potentiellen Standpunkte ihrer Mitbewohner ausführlich durchgesprochen. Am Ende waren sie mit Bedauern zu dem Ergebnis gelangt, daß ihre Bereitschaft, sich den Reportern zu stellen, wenn auch nur, um die anderen zu schonen, von ihren Mitbewohnern falsch interpretiert werden könnte. Nachdem ihnen das klar war, ergab sich der nächste Schritt (von der Tugend zum Pragmatismus) wie von selbst. Sie beschlossen, ihr Opfer zugunsten von Suhami geheimzuhalten. Stand nicht in der Bibel geschrieben, daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut? Eine neue Auslegung dieses Zitats brachte Ken und Heather auf die Idee, daß es klüger war, sich irgendwo anders ein Stelldichein mit dem Teufel zu geben.