»Sie sind immer noch gegen Gamelin als potentiellen Mörder, Chief?«
»Ich denke schon.« In Wirklichkeit erschien Barnaby diese Erklärung an den Haaren herbeigezogen. Wieso dem so war, wußte er allerdings nicht zu sagen. Einerseits irritierte ihn, daß ihm der Mann so eindeutig als Sündenbock präsentiert worden war. Auf der anderen Seite lag ihm Gamelins echte Empörung darüber, daß ihn alle als Mörder abstempelten, schwer im Magen. Und dann war da noch das Motiv. Auf den ersten Blick schien es eindeutig, aber bei näherer Betrachtung verflüchtigte sich dieser Eindruck. Barnaby glaubte, daß Guy im Ernstfall seine Tochter dem Mammon vorzog. Er schien ganz und gar davon besessen gewesen zu sein, sich mit ihr auszusöhnen. Da sie aus ihren Gefühlen zu ihrem Lehrer kein Hehl gemacht hatte, hatte ihr Vater an fünf Fingern abzählen können, daß seine Chance auf Wiederversöhnung gleich Null war, falls er Craigie etwas antat. Und sein Tod bot keine Garantie, daß Sylvie das Geld nicht verschenkte. Ganz im Gegenteil, vielleicht hätte dies sie nur noch in ihrer Entscheidung bestärkt. Doch den Hauptgrund für Barnabys Einstellung lieferte der Charakter des Mannes. In seinen Augen war Gamelin ein Mann, der nach dem Motto handelte: Nimm dir, was du willst, und bezahl dafür. Sicherlich konnte der Chief Inspector sich vorstellen, daß Gamelin einen Mord verübte, aber dann eher impulsiv, spontan, rasend vor Zorn, und nicht kaltblütig, durchdacht, geplant. Und bestimmt wäre er hinterher dagestanden und hätte den Mord laut in die Welt hinausgeschrien oder sogar damit geprahlt und sich dann die besten Anwälte geholt, die man für Geld kaufen konnte. Nein - Barnaby war sicher, daß Gamelin nicht der Mörder war. Warum der Tote auf ihn gezeigt hatte, verstand er allerdings nicht.
Audrey Brierley brachte weitere Informationen über die möglichen Alter egos des Toten. Troy schnappte sich die Ausdrucke und überflog sie. Freddie Cranmer? Nicht nur zu jung, sondern auch mit exotischen (und obszönen) Tätowierungen übersät. Der nächste kam schon eher in Frage. Albert Crainleigh. Siebenundfünfzig. Von Kindheit an kriminell, in erster Linie kleine Betrügereien und das Verschieben gestohlener Gegenstände. Später ausgefeiltere Aktionen. Getürkte Bestellanzeigen. Versicherungs- und Hypothekenbetrug. Und dann hatte er eine große Nummer mit dem Verkauf von Anteilen abgezogen. Hatte auf diese Weise eine Menge Kohle gemacht, die nie gefunden wurde. Wurde in Malta geschnappt. Vier von sieben Jahren abgesessen. War 1989 freigelassen worden. Beispielhafter Gefängnisinsasse, aber das waren Betrüger immer.
»Das hier kommt hin, Sir.«
Barnaby hörte zu, während Troy laut vorlas. Als der Sergeant enthusiastisch nickte, hob und senkte sich sein Bürsten-haarschnitt wie der Kamm einer vorwitzigen Sumpfschnepfe.
»Das einzige, was paßt«, faßte der Chief Inspector zusammen, »ist, daß beide Männer im gleichen Alter sind. Einmal abgesehen von Gamelins Beschuldigung, die unter jenen Umständen verständlich war, haben wir keinen Grund, in Craigie einen Betrüger zu vermuten.«
Er bemerkte, wie Troys Kinnmuskeln sich verkrampften. Wenn Troy eine Ahnung hatte, war er wie die Katze vor dem Mauseloch. Daß er nie begriff, wann er aufgeben und heimgehen mußte, war seine Stärke und gleichzeitig seine Schwäche.
»Falls Sie sich entsinnen«, sagte Barnaby, der sich nur daran erinnerte, weil er vergangenen Abend noch einmal die Aussagen durchgegangen war, »sprach Arno Gibbs über die finanzielle Hilfe, die die Kommune gewährte, und über die Spenden an Organisationen wie Christian Aid und so. Das paßt ja nun überhaupt nicht zu Ihrer Theorie.«
»Aber so sind doch alle großen Schurken verfahren, Chief. Denken Sie an die Krays. Almosen, Jugendclubs, Boxtrophäen. Die haben das Geld verteilt.«
»Die Basis unterstützen. Das ermutigt die Rekruten. Aber auf Windhorse haben wir keinen Zarismus, sondern eher so was wie eine Demokratie.«
»Ach ja?« Troy zwinkerte und schnalzte mit der Zunge.
»Eine Organisation, in der alle Mitglieder gleich sind.« Barnaby las die Gedanken seines Untergebenen. »Und die nicht von Frauen geleitet wird.«
»Ist nur gerecht.« Ein verständlicher Fehler, sinnierte Troy, da die meisten von ihnen den Verstand von ausgeleierten Unterhosen hatten. »Was mich nicht daran hindern wird, mir ein paar Fotos anzusehen.« Er gab sich rebellisch.
»Lassen Sie das. Die Leute in dieser Abteilung haben schon genug zu tun.« Es klingelte. Das war Winterton, der Communications-relations-Beamte, der sich um den sogenannten Gamelin-Fall kümmerte. Die Presse setzte ihm telefonisch ziemlich zu, und nun wollte er erfahren, ob Barnaby über ein paar neue Informationskrümel verfügte, die er ihnen zum Fraß vorwerfen konnte.
»Verbraten Sie noch mal das, was Sie denen gestern schon gesagt haben. Nur mit anderen Worten.«
»Danke, Tom. Sie waren mir eine große Hilfe.«
»Gern geschehen.« Barnaby legte auf. Als er aufblickte, war das Büro leer.
Arno ging im Obstgarten spazieren. Es war noch ziemlich früh. Blaue Nebelschwaden lagen über den Beeten, und die frostüberzogenen Äpfel schimmerten im morgendlichen Sonnenschein. Über seinem Kopf funkelte der strahlende Morgenstern. Obwohl er in der Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte, war er kein bißchen müde.
Er trug ein mit Erdbeerblättern verziertes Schälchen und ging zu »Stella«, ihrem sich selbst befruchtenden Kirschbaum, der reichlich Früchte trug. Der Baum war mit einer Reihe von Netzen bedeckt, die auf Flohmärkten gekauft und hinterher zusammengeflickt worden waren. Das Ding war nicht wirklich vogelsicher. Gerade als Arno näher kam, traten ein paar Stare laut zwitschernd die Flucht an. Er pflückte die restlichen Kirschen, stellte das Schälchen auf das Gurkenspalier und schnitt mit seinem Taschenmesser die angeknabberten und verschrumpelten Früchte ab. Die anderen stapelte er zu einer kleinen Pyramide und ordnete sie so an, daß die schöne Seite nach außen zeigte. Leider war das Ergebnis alles andere als befriedigend. Die Kirschen hatten nichts mit den üppigen dunkel glänzenden Exemplaren gemein, die man in Supermärkten kaufen konnte.
Normalerweise akzeptierte Arno voller Resignation die ungespritzte Unvollkommenheit, aber heute gedachte er May zu verführen. Am vergangenen Abend hatte sie kaum einen Bissen zu sich genommen, was ihn angesichts des desaströsen Nachmittags kaum verwunderte. Seit dem Abendessen war Arno beunruhigt, weil er (wie alle Liebenden) fürchtete, daß seine Angebetete dahinschwand, falls sie so weitermachte.
Das Schälchen vorsichtig balancierend, überquerte er den Rasen. Erst jetzt bemerkte er, daß die Sonne aufgegangen war, daß das Gras seine Frische von vorhin verloren hatte, daß das taubenetzte Grün unter seinen Sohlen sich weich anfühlte. Als er sich dem Haus näherte und in Sichtweite des Haupttors gelangte, zögerte er und schlich dicht an der Hecke entlang, um dann das letzte Stückchen ungeschützt zurückzulegen.
Ave und Terry hatten mit der Belagerung recht behalten.
Arno hatte ein altes Schloß und eine rostige Eisenkette gefunden und gerade noch rechtzeitig das Tor gesichert. Am frühen 'Abend hatte sich dort draußen eine lautstarke Menschenmenge versammelt. Das alles erinnerte ein wenig an eine Szene aus einem alten Stummfilm, in der aufbegehrende Bauern die Bastille stürmen. Fotografen waren auf die Mauer geklettert, und der Krankenwagen hatte große Mühe gehabt, durchzukommen.
Doch im Moment herrschte Ruhe. Vögel zogen ihre Kreise. Die Würmer zeigten sich noch nicht. Wie sich herausstellte, war Arno nicht der einzige Frühaufsteher. Als er um die Hausecke bog, wurde ein Fenster im Erdgeschoß aufgerissen. Es gehörte zu Mays Zimmer. Kurz darauf schallte ein wunderschöner Akkord durch die reine Luft. Arnos Herz machte einen Satz, setzte einmal aus und schlug dann hocherfreut weiter.