Er versteckte sich im Efeu, stand reglos da, hob und drehte den Kopf, während es ihn zum offenstehenden Fenster drängte wie die Blume zum Licht. Ein goldener Ton ergoß sich in die strahlende Morgenfrische, legte sich um Arnos Herz, band ihn noch enger an sie, an die liebste aller Musikerinnen. Sich zurücklehnend, schloß er die Augen. Unbemerkt fiel Staub aus dem Efeu auf seine Haare und seinen Bart. Die Welt schrumpfte auf die schnellen Bewegungen des Cellobogens zusammen.
Sie spielte ein katalanisches Volkslied. Den majestätisch-melancholischen Trauergesang eines Exilanten. Wie üblich stimmte das Lied Arno traurig, doch die Liedstruktur war so harmonisch, die Melodie so lieblich, daß er, wenn die letzten Töne erklangen, nicht Trauer empfand, sondern schieres Glück.
Sein Blick fiel auf das Schälchen. Die Kirschpyramide war zusammengefallen. Die Früchte schrumpelten schon ein. Nicht einmal die Erdbeerblätter wirkten frisch. Die Unangemessenheit seines Geschenkes im Vergleich zu dem Genuß, der ihm gerade beschieden gewesen war, beschämte Arno zutiefst. Ohne zu zögern kippte er die Kirschen hinter die Blumenbeeteinfassung und brachte das Schälchen in den Töpferschuppen.
Die Cellistin legte ihren Bogen weg und trat ans offene Fenster, um die Sonne zu begrüßen. Gerade heute brauchte sie alle Energie, die sie aufbringen konnte. Ihre heilenden Kräfte - derart übertrieben beschrieb May Warmherzigkeit - wurden stärker gebraucht als je zuvor. Sie hob die Arme, woraufhin die wassergrüne Seide auseinanderfiel, und legte damit ihre wunderbare Körperfülle frei. »Das Göttliche in mir ruft das Göttliche in dir«, tat sie kund und verneigte sich sieben Mal in dem Wissen, daß jede Verbeugung Liebe, kosmische und göttliche Kraft ins Herzchakra fließen ließ. Hinterher nahm sie ein ausgiebiges Bad, machte ein paar Yogaübungen, atmete abwechselnd durch eines der Nasenlöcher aus und ein und begab sich, nachdem sie sich nun gewappnet fühlte, den Tag in Angriff zu nehmen, zum Frühstück in die Küche.
Allem Anschein nach war May ihren Ablutionen länger als gewöhnlich nachgegangen. In der Küche hatten sich - bis auf Tim und Felicity - bereits alle eingefunden.
Heather stand an der Spüle und kümmerte sich um die Herstellung von dynamischem Sonnenwasser. Dazu mußte man mehrere Streifen verschiedenfarbiges Lackmuspapier um mit Wasser gefüllte Plastikflaschen legen und die Streifen mit einem Band befestigen. Danach wurden sie in die pralle Sonne gestellt. Die Energie der Strahlen verlieh dem Wasser eine kraftvolle elektromagnetische Ladung.
Heather gab sich unterwürfig und verrichtete heute Aufgaben, an die sie vor vierundzwanzig Stunden keinen einzigen Gedanken verschwendet hätte. Sie hatte ihr Haar zu einem Zopf zusammengebunden und ihn mehrmals um den Kopf geschlungen. Sie trug ein Kleid in einer Farbe, die nur als Büßergrau bezeichnet werden konnte. Die gewissenhafte und unterwürfige Hausfrau mimend, war sie doch eher das Paradebeispiel einer Aufseherin im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses.
Ken schwieg und hielt sich ein wenig abseits. Bislang hatte er das, was ihm gereicht wurde (ein Glas Mate und etwas Müsli), mit überschwenglicher Dankbarkeit entgegengenommen und ohne den Versuch zu machen, sich mit irgend jemandem zu unterhalten. Er verhielt sich wie ein Mann, der wußte, welcher Platz ihm gebührte (eine Nische neben dem Kamin), : und sich darüber freute. Selbst wenn er sich hätte bewegen wollen, wäre ihm das nicht möglich gewesen. Sein rechtes Bein, dreimal gebrochen, steckte vom Schritt bis zur Fußsohle in Gips.
Darüber verlor Ken absichtlich kein Wort. Während Heather sich bemüht hatte, ihn halbwegs komfortabel in ein kleines Schlafzimmer im Erdgeschoß zu betten, hatte sie ihm beigepflichtet, daß sie nur darauf hoffen konnten, daß die Kommune ohne ihr Zutun einsah, wie groß sein Opfer war, und dies gegen das Ausmaß und die Qualität seines Betrugs abwog.
Als man ihn unter dem Buddha hervorgezogen hatte, hatte sich Ken - zu seiner eigenen Überraschung und zu der seiner Mitbewohner - erstaunlich ruhig und tapfer verhalten. Darum bemüht, nicht laut aufzuschreien, hatte er Mays Notfallmedizin eingenommen und - als die Schmerzen schlimmer statt besser wurden - die Zähne zusammengebissen, Tränen unterdrückt. Auf der Trage war es ihm sogar gelungen, sich ein Lächeln abzuringen, zu winken und den anderen zu verstehen zu geben, daß sie sich keine Sorgen um ihn machen brauchten. Nichts sollte sich von Kens Aufenthalt auf Windhorse so nachhaltig einprägen wie dieser Abgang.
Arno erhob sich, als May hereinkam, und fragte sie, ob sie etwas essen und eine Tasse frisch aufgebrühten Luakatee trinken mochte. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Du bist gerade am Frühstücken, mein Lieber. Laß nur, ich bediene mich selbst.« Die zärtliche Anrede trieb ihm die Röte ins Gesicht. Sie steckte den Stecker des klapprigen Restauranttoasters in die Dose. Er war ziemlich alt, dafür aber sehr effizient. Kaum i waren die Toasts knusprig gebräunt, warf er die gestreiften Brotscheiben in die Höhe. War der Toaster voll, kamen insgesamt ein Dutzend Scheiben Brot auf einen Schlag aus den Schlitzen geschossen und purzelten durch die Luft.
May fand, daß es sehr ruhig war. Gewöhnlich wurde bei den Mahlzeiten viel geredet und gelacht. Heute morgen brachte kaum einer ein Wort über die Lippen. Janet hing unbequem auf einem nach hinten gekippten Stuhl und zupfte an ihren in Kordhosen steckenden Knien herum. Christopher und Suhami tranken richtigen Kaffee, saßen beieinander und waren doch nicht zusammen. Er warf ihr immer wieder einen Blick zu und verdrehte den Kopf einmal so sehr, daß sich sein Gesicht um neunzig Grad geneigt vor ihrem befand. Diese Maßnahme, als Aufheiterung gemeint, erzielte leider nicht das gewünschte Ergebnis. Sie schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab. Selbst das Klappern des Bestecks wirkt gedämpft, dachte May, und beobachtete, wie Arno sein Messer ganz behutsam auf einen kleinen Teller legte. Ihr fiel sein gerötetes Gesicht auf, und sie hoffte, daß er keine Krankheit ausbrütete. Drei Kranke waren mehr als genug.
Nachdem Heather die Flaschen verschlossen hatte, flüsterte sie leise: »Ich werde sie nach draußen bringen.« Und spazierte auf Zehenspitzen aus der Küche.
Mays Toast sprang aus dem Schlitz. Gleichzeitg begann das Telefon zu läuten. Mit einer Hand nach dem Hörer greifend, auf der anderen den heißen Toast balancierend, rief May: »Beim Jupiter! Ist das heiß.« Der Anrufer war konsterniert.
Die anderen, in Furcht isoliert, spitzten die Ohren. Gab es Neuigkeiten über Trixie? Über die Ermordung des Meisters? War das die Bank oder ein Rechtsanwalt mit Informationen über ein Testament? Alle versuchten, die Lücken zwischen den sporadisch von May hingeworfenen Satzfetzen zu füllen.
»tombs...? Bestimmt nicht. Wir werden unsere eigenen Vorbereitungen treffen. Ich muß schon sagen, ich finde es ziemlich unerhört - ach, Sie heißen Tombs? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?... ah - ich verstehe. Ja, das ist natürlich schon ein Problem... Das werden wir in der Tat, lassen Sie mich kurz überlegen... Nein, ich bin sicher, daß keiner von uns den Wunsch hat, das zu tun. Die sind überhaupt nicht freundlich. Hören Sie - ich sage Ihnen was - in der Mauer hinter unserem Gemüsegarten befindet sich eine Holztür. Die Erde unter der Tür ist ziemlich runtergetreten, insofern gibt es da so etwas wie “nen Spalt... Oh, das könnten Sie? Wie furchtbar nett. In einer Viertelstunde? Vielen Dank.«
»Worum ging es denn?«
»Miss Tombs, Christophen Vom Dorfpostamt. Der Postbote kann die Post nicht ausliefern, weil unser Tor verschlossen ist. Sie erkundigte sich, ob jemand runtergehen -«
»Nein!« schrie Suhami auf.
»Ganz richtig. Ihr habt gehört, was ich vorgeschlagen habe. Sie wird die Briefe für uns in eine Plastiktüte stecken.«
»Die Post habe ich ganz vergesssen«, meinte Arno. »Wir werden sie sorgfältig prüfen müssen. Von nun an werden die Menschen auch aus ganz anderen Gründen zu uns kommen wollen.«