»Himmel«, entfuhr es Arno, als er einen Briefumschlag öffnete, »da meldet sich schon jemand für unser Hydro/Massage-Wochenende an.«
Reich Aphrodite die Hand war überall in Causton und Ux-bridge plakatiert und diskret in einer oder zwei Zeitschriften annonciert worden. Die Kommune hatte ein paar Whirlpoolapparate angeschafft, um die Ausstattung der alten Klauenfußbadewannen zu verbessern. Falls das Wetter es zuließ, sollte der Workshop jedoch im See stattfinden.
»Hier ist einer für dich«, sagte Chris. »Und May.« Er hielt ihnen einen langen, schmalen Briefumschlag aus schwerem cremefarbenem Büttenpapier entgegen, der tadellos adressiert und ausreichend frankiert war.
»Für uns beide?« Hocherfreut, aber auch irritiert nahm Arno den Brief in Empfang. Als Verwalterin erhielt May im Gegensatz zu ihm sehr oft Post. Er könne sich nicht vorstellen, verriet er, warum jemand an sie beide einen Brief sandte.
»Kannst du nicht?« fragte Chris aufgeregt und angespannt. »Der ist von einem Anwalt.«
»Meinst du?«
»Aber klar doch. Deren Briefe sehen immer so aus.«
»Ich denke, Chris könnte recht haben«, murmelte Heather mürrisch.
»Wir müssen sofort May suchen.«
»Mach ihn auf«, drängte Suhami. »Er ist auch an dich adressiert.«
»Dennoch wäre es mir lieber, wenn sie ebenfalls zugegen wäre.«
»May war vorhin bei Mrs. Gamelin«, sagte Heather. »Soll ich sie holen?«
»Ich werde gehen«, schlug Suhami vor.
Mit geschlossenen Augen und einem Milchbärtchen auf der Oberlippe lag Felicity auf ihrem Kissen. May saß neben ihrem Bett. Leise trat Suhami ein und schloß die Tür.
Sie ging zum Bett hinüber und betrachtete ihre Mutter, die sie seit Jahren nicht mehr ohne das, was Felicity ihre »Kriegsbemalung« nannte, zu Gesicht bekommen hatte. Mit Entsetzen bemerkte sie, daß sie sie auf der Straße nicht wiedererkannt hätte.
Felicitys Haar war glatt zurückgekämmt. Da sie auf ihrem Roßschwanz lag, war da nichts, was ihre unglaublich scharfe Kinnlinie und ihre hohlen Wangen umschmeichelte. Selbst im Tiefschlaf sah sie unerhört verzweifelt aus. Alle Gamelins, dachte Suhami. Wir alle... Unerwarteterweise berührte es sie sehr zu sehen, daß die Augenbrauen ihrer Mutter langsam grau wurden.
»Wird sie wieder gesund werden, May?«
»Das hängt sehr stark davon ab, ob sie gesund werden möchte. Im Augenblick können wir ihr nur Ruhe und Erholung bieten. Ich vermute, ihre Seele und ihr Körper haben große Pein erfahren.«
»Ja.« Suhami drehte sich weg. Schließlich gab es nichts, was sie tun konnte. Zuviel Zeit war verstrichen. Sie besaß nicht einmal die Erinnerung an Zuneigung. »Für dich ist ein Brief gekommen.« Ohne noch einmal einen Blick über die Schulter zu werfen, verließ sie das Zimmer. »Alle nehmen an, daß es sich um einen Brief von einem Anwalt handelt.«
Nachdem er ins Büro umgezogen war und hinter dem alten Kopiergerät Platz genommen hatte, sortierte Arno mit Chris’ Unterstützung die Briefe aus. Wie er angenommen hatte, handelte es sich bei den meisten um Anmeldungen für geplante Veranstaltungen. Ein oder zwei Rechnungen waren ebenfalls darunter und auch die Anfrage nach einer Heilsitzung. Als May eintrat, erhob er sich und händigte ihr den Büttenumschlag aus, den sie umgehend aufriß.
»Der Brief ist von einem Mr. Pousty von Pousty & Dingle. Sie möchten uns sprechen.«
»Weswegen?« fragte Arno.
»Das steht nicht drin.« May stellte sich vor das offene Fenster und hielt den Briefbogen ins Sonnenlicht. Nach ein paar Minuten begann ihr Arm zu zittern. Sie zog den Brief zurück, preßte ihn an ihre Wange und atmete tief durch. »Nun, sicherlich gute Neuigkeiten. Wir sollten anrufen, Arno, und einen Termin vereinbaren.«
Arno war nicht in der Lage, mit Mr. Pousty zu sprechen, der gerade in der Nähe von Cairngorms Urlaub machte, aber man ließ ihn wissen, daß Hugo Clinch sich freuen würde, sie an diesem Nachmittag um halb drei zu empfangen.
Mr. Clinch, ein Mann Mitte Dreißig, trug einen hervorragend geschnittenen mittelblauen Anzug, eine etwas hellere Seidenkrawatte und eine graublaue Weste. Sein Hemd strahlte in einem blassen Kanarienvogelgelb, das sich nicht von seinen gelockten Haaren unterschied. Er besaß eine Menge großer, sehr gepflegter Zähne.
Das Büro war hell und geräumig. An einer Wand hing eine Reproduktion von Annigonis »Queen«, und die anderen drei waren mit langen, schmalen Fotos von Cricketspielern bestückt. Ein Sack mit Golfschlägern lehnte an einem Aktenschrank, und auf dem Tisch stand ein in Silber gerahmtes Foto, auf dem Mr. Clinch mit einem Fechtdegen unter dem Arm und einem Rapier in der Hand abgebildet war.
Arno, dem ein paar altmodische Zertifikate lieber gewesen wären, sah, daß May sich setzte, und folgte ihrem Beispiel. Kaum hatte er Platz genommen, ging eine Tür auf, und ins Zimmer stolperte eine Dame mit einem Hut wie ein glasierter Pilz. In Händen hielt sie ein Tablett mit Teegeschirr. Dem Alter nach hätte sie gut und gern Mr. Clinchs Großmutter sein können. Arno sprang auf und eilte ihr zu Hilfe. Dankbar neigte sie den Kopf und entfernte sich wieder. In der Luft blieb ein Hauch von Lavendel zurück.
Nachdem der Tee - Lapsang Souchong - eingeschenkt und das Gebäck - Lincoln-Biskuits - verteilt waren, sprach Mr. Clinch ihnen sein Mitgefühl aus. Nach dieser kurzen Ansprache zog er eine graue Metallkiste heran, auf der seitlich in Weiß der Name »Craigie« geschrieben stand, und lächelte. Endlos lange Zahnreihen blitzten auf. Arno bewunderte die teuren Keramikkronen und fragte sich, wie der Mann es schaffte, den Mund zu schließen.
Das Testament war kurz und schlicht gehalten. Beschrieben wurde das »Manor House« genannte Anwesen in Compton Dando, Buckinghamshire, das im folgenden zu gleichen Teilen Miss May Lavinia Cuttle und Mr. Arno Roderick Gibbs vermacht wurde. Pietätvoll legte der Anwalt eine kurze Pause ein, senkte den Blick taktvoll auf seine grüne Schreibunterlage und blickte schließlich auf. Er rechnete damit, daß sich auf den Mienen seiner Besucher Freude und Trauer spiegelten, wie das unter derlei Umständen immer der Fall war.
Doch Mr. Gibbs war leichenblaß, umklammerte die Armlehnen seines Holzstuhls. Es war unübersehbar, daß er schreckliche Qualen litt. Im Gegensatz dazu nahm Miss Cuttles Antlitz in Sekundenschnelle einen tiefen Rotton an. Sie stieß einen Schrei aus und begann laut zu weinen.
Schockiert über die allzu menschlichen Reaktionen, öffnete Mr. Clinch eine Schreibtischschublade und holte eine Schachtel Kosmetiktücher hervor. Als sein Papierkorb bis zur Hälfte mit verbrauchten Zellstofftüchern gefüllt war und Arnos Wangen langsam wieder einen verhaltenen Roseton annahmen, schenkte der Anwalt Tee nach, den keiner von beiden anrührte. Hilflos händigte er Arno, der in seinen Augen nicht ganz so mitgenommen wie seine Begleiterin war, einen Briefumschlag aus. Auf dem Umschlag hatte der Meister ihre beiden Namen geschrieben. Arno stand auf und fragte: »Müssen wir ihn jetzt lesen?«
»Natürlich nicht. Obgleich darin Dinge angesprochen werden könnten, über die Sie eventuell mit mir sprechen möchten. Dies würde Ihnen einen weiteren Termin bei mir ersparen.«
»Selbst wenn dem so ist, brauchen wir nach meinem Dafürhalten Zeit, um all das zu verdauen. Sicherlich wird Miss Cuttle...« Er warf May, die immer noch aufgelöst war, einen ängstlichen Blick zu. Selbst die grüne Kokarde auf ihrem kleinen roten Dreispitz schien in sich zusammengefallen zu sein.
»Nein, Arno«, sagte sie. »Mr. Clinch hat ganz recht. Es ist vernünftiger, ihn jetzt gleich zu lesen.«
»Dann - falls es Ihnen nichts ausmachen würde?« Arno gab den Brief zurück. Weder sich noch seiner Stimme traute er zu, die Worte des Verstorbenen laut zu lesen. Der Anwalt zog ein einzelnes Blatt heraus und begann vorzulesen.