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  »Ich nehme mal an«, sagte May, »sie macht sich Sorgen um Trixie.«

  »Gewiß doch«, stimmte Heather zu. »Und das verstehe ich auch. Oder versuche es wenigstens. Das Problem ist, daß ich schon immer langweilig und normal gewesen bin.« Dieser kapriziöse genetische Irrtum entlockte ihr einen Seufzer. Sie und Ken tauschten normale und unerhört langweilige Blicke aus. »Aber als sie mir dann vorwarf, keine Heilerin zu sein -«

  »Keine Heilerin?« Das Bein rutschte beinahe von der Metallstütze.

  »Ich weiß.« Heather rang sich ein Lächeln ab. »Ich war kurz davor, ihr etwas Gehässiges an den Kopf zu werfen.«

  »Ich bin sicher, daß Janet nicht unfreundlich sein wollte«, meinte Arno. »Im Augenblick stehen wir alle unter großer Anspannung. Ich persönlich mache mir große Sorgen um Tim.«

  Der Junge hatte sich extrem verändert. Nur Arno durfte sein Zimmer betreten, allen anderen blieb die Tür verschlossen. Tim weigerte sich, die Vorhänge mehr als einen Spaltbreit aufzuziehen. In dem spärlich einfallenden Licht konnte Arno erkennen, wie schlimm es inzwischen um Tims Geisteszustand bestellt war. Der Schlaf und das Weinen ließen seine normalerweise straffe Haut aufquellen. Seine geröteten Wangen waren stets tränenbenetzt und wiesen tiefe Furchen auf, wo die Matratze sich abdrückte. Seine Augenlider waren gelbverkrustet. Der Anblick des Jungen schockierte Arno.

  Als Arno versuchte, das verschwitzte Kopfkissen neu zu beziehen, mußte er Tims Finger einen nach dem anderen lösen, um diese Aufgabe zu bewältigen. Mit seinen langen und knochigen Fingern umklammerte der Junge panisch seinen Arm. Geduldig hatte Arno sich auf den Bettrand gesetzt und ihm im Flüsterton gut zugeredet.

  »Es ist alles in Ordnung... mach dir keine Sorgen. Du bist in Sicherheit, Tim. Verstehst du mich?« Er machte eine Pause, in der Tim die Augen verdrehte, als fürchte er sich vor jedem Schatten, jeder Zimmerecke. »Niemand ist hier. Niemand wird dir weh tun. Kannst du mir nicht sagen, wovor du dich fürchtest?« Diesmal schwieg er länger und strich mit der Hand über Tims heiße Stirn. »Es würde ihm nicht gefallen, dich so zu sehen.«

  Bei diesen leise formulierten Worten stieß Tim eine Reihe verunsicherter, erstickter Laute aus. Besorgt und beunruhigt, weil es ihm nicht gelang, den armen Jungen zu trösten, reagierte er verzweifelt. »Du machst dir doch keine Gedanken um die Zukunft, oder? Gestern habe ich dir zu erklären versucht, daß May und mir nun das Haus gehört. Wir werden uns immer um dich kümmern. Der Meister hat dich unserer Obhut überlassen. Er hat dich geliebt, Tim...«

  »Findest du nicht, Arno«, holte Mays Stimme ihn in die Gegenwart zurück, »daß wir uns mit jemandem aus dem Krankenhaus unterhalten sollten?«

  Mit offenem Mund warfen sich Ken und Heather konsternierte Blicke zu. Niemals hätten sie erwartet, solch verräterische Worte auf Windhorse zu vernehmen. Jedes allopathische Mittel, angefangen von einem milden Analgetikum bis hin zu lebenserhaltender Chirurgie, erregte ihre Skepsis. Gestern waren sie beide wie vor den Kopf geschlagen gewesen, als sie von der tödlichen Krankheit des Meisters und der Behandlung, der er sich unterzogen hatte, erfahren hatten. Selbst jetzt fiel es ihnen schwer zu glauben, daß er sich von ihnen abgewandt und nicht ihre heilenden Fähigkeiten in Anspruch genommen hatte.

  »Ich denke, er wird sich hintergangen fühlen«, meinte Arno und litt darunter, anderer Meinung als seine Angebetete zu sein, »falls wir das tun. Womöglich wird er uns in Zukunft nie mehr vertrauen.«

  »Ich verstehe«, meinte May. »Auch ich hasse es, professionelle Hilfe zu holen. Andererseits können wir nicht zulassen, daß er sich ewig dort oben versteckt. Ach - wäre nur der Meister hier.«

  »Er wird wieder auf die Erde zurückkommen, May«, rief ihr Ken zu.

  Trotz der Festigkeit seiner Stimme schien seine Versicherung in der Luft zu schrumpfen und keinen Trost zu spenden.

  In der Zwischenzeit hatte sich Janet über ihren Köpfen auf der gepolsterten Fensterbank zusammengekauert und den blauen Umschlag aus der Tasche gezogen; mit zittrigen Fingern hielt sie ihn hoch. Ein Poststempel aus Slough. Männliche Schrift (wen wunderte das?), die keine besonders starke Hand verriet. Und wieso war sie sich dann so sicher, daß der Absender ein Mann war? Oder entsprang ihre Überzeugung nur ihrer Eifersucht, ihrer Ablehnung?

  Vielleicht täuschte sie sich. Vielleicht war der Brief (alle Briefe) von Trixies Mutter oder Schwester. Oder einer Freundin. Aber wer immer sie geschrieben hatte, mußte ihr nahestehen. Nur jemand, der einem nahestand, schrieb so häufig. Sollte diese Person Trixie nahestehen, wußte sie sicherlich, wohin sie gegangen war. Janet begann den Brief aufzureißen, hielt dann aber inne.

  Was, wenn diese Person, die regelmäßig Briefe schrieb, darauf verzichtet hatte, eine Adresse anzugeben? In dem Fall wäre sie umsonst in Trixies Privatsphäre vorgedrungen. Letztendlich war das die einzige Motivation, den Brief zu öffnen. Um mit Trixie in Verbindung zu treten und sie zur Rückkehr zu überreden. Sie mußte erfahren, daß sie als Zeugin in einem Mordfall Schwierigkeiten bekam, wenn sie einfach so davonlief. Janet rechnete sogar damit, daß die Polizei schon eine Beschreibung von ihr in Umlauf gebracht' hatte. Als Freundin war es ihre Pflicht, Trixie zu suchen und sie zur Heimkehr zu bewegen, oder nicht? Selbstverständlich würde sie den Brief nicht lesen. Sie riß den Umschlag auf und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus.

  Geliebte Trixie, Du wirst es kaum glauben - ich selbst kann es kaum fassen - aber Hedda ist weg. Es ist wahr. Ruf mich an oder komm einfach. Ich liebe dich. In Liebe, V.

  Janet drückte das Blatt mit der Schrift nach unten auf ihr Knie. Ihr war eiskalt vor Schock. Unerträgliche Einsamkeit übermannte sie.

  Darum war Trixie also weggerannt. Um mit diesem Mann - diesem V - zusammenzusein, der sie schlecht behandelt hatte und dies zweifellos auch in Zukunft tun würde. Janet hatte über Frauen gelesen, die stets zu ihren Ehemännern zurückgingen, die sie schlugen. So ein Verhalten war ihr völlig schleierhaft. Niemand hatte jemals Janet geschlagen, und sie hätte schwören können, sie würde weglaufen und keinen Blick zurückwerfen, sollte so etwas jemals geschehen.

  Sie dachte an den Tag, als Trixie zum ersten Mal hier aufgetaucht war. Mit beängstigenden blauen Flecken an Kinn und Hals, mit grellroten Fingernagelstriemen auf der Haut. Die Erinnerung ließ Janet am ganzen Körper erschaudern. Etwas später hatte sie sich wieder beruhigt und saß die meiste Zeit stumm und reglos da.

  Nach einer Weile heftete sich ihr Blick widerwillig auf das Blatt Papier. Da war eine Adresse. Seventeen Waterhouse. Höchstwahrscheinlich in Slough. Wenn sie nicht dort ist, dachte Janet, bin ich verloren. Und selbst wenn sie dort ist, habe ich auch nicht viel, womit ich etwas anfangen kann. Kein Stadtteil, nichts. Möglicherweise konnte ihr das Postamt behilflich sein.

  Janet zwang sich, die kurze Nachricht wieder und wieder durchzulesen, dem Prinzip folgend, daß jedes Wort oder jede Wortreihe laut gesprochen oder genauer betrachtet einen Sinn ergeben könnte, daß die Worte die Macht hatten, ihr weh zu tun. Sie konnte nicht ernsthaft behaupten, daß das hier der Fall war. Obgleich sie noch Eifersucht und Schmerz spürte und ihre Hand leicht zitterte, wurde sie zusehends ruhiger. Ganz allmählich gelang es ihr, die Sache rational zu sehen.

  Wieso ging sie ganz selbstverständlich davon aus, daß »V« ein Mann war? Klar, Trixie (oder - vulgärer - Trix) war die »Geliebte« des Schreibers, aber was sagte das schon? Nicht mehr als starke Zuneigung. Kein Grund, ein romantisches Interesse zu unterstellen. Dasselbe galt für die letzte Zeile. Wer setzte heute kein »Ich liebe dich« ans Ende eines Briefes? So verfuhren sogar Bekannte. Dann war da noch die Wiederholung, was womöglich nur bedeutete, daß der Schreiber ein enthusiastischer Charakter war.