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  Noleen, Andrew Carters Nachbarin in Earl’s Court, hatte bestätigt, an jenem Morgen, als sein Onkel gestorben war, zusammen mit Andrew gefrühstückt zu haben. Barnaby hatte nicht ernsthaft geglaubt, daß der Junge etwas mit dem Tod seines Onkels zu tun gehabt hatte, andererseits war es nicht gerade ungewöhnlich, daß ein Schuldiger der Polizei eine glaubwürdige Geschichte auftischte, um die eigenen Spuren zu verwischen. Bislang war es Barnaby nicht vergönnt gewesen, Andrews Aktivitäten auf Blackpool’s Golden Mile zu überprüfen, aber irgend jemand kümmerte sich vor Ort darum.

  Ob es eine Verbindung zwischen den beiden Fällen gab, war im Augenblick noch unklar. Nichtsdestotrotz war es verführerisch, von dieser Möglichkeit auszugehen. Wollte man sich ausschließlich an die Tatsachen halten, durfte man mit Sicherheit davon ausgehen, daß Carter eine Entdeckung gemacht hatte (»Andy - etwas Schreckliches ist geschehen...«) und er kurze Zeit danach die Treppe hinuntergestürzt war. Und daß Craigie zwei Monate später ermordet worden war. Ob der Meister bei dem ersten Tod seine Hände im Spiel gehabt hatte, war im nachhinein nicht eindeutig zu beweisen - Miss Cuttle konnte nicht mit Sicherheit sagen, wessen Stimme sie gehört hatte. Einmal angenommen, daß es nicht Craigie gewesen war, hatte er dann etwas herausgefunden und war infolgedessen getötet worden?

  Sollte dem so gewesen sein, gab der Gamelin-Treuhand-fonds kein stichhaltiges Motiv ab, zumal Sylvie bei ihrem Verhör dem Chief Inspector gesagt hatte, sie habe diesen Vorschlag dem Meister erst eine Woche vor ihrem Geburtstag unterbreitet. Keiner von beiden hatte gegenüber den anderen ein Wort über dieses Thema verloren. Einmal abgesehen von Guy, aber der hatte erst am Mordabend davon erfahren. Barnaby warf einen Blick auf seinen Notizblock. Beim Nachdenken hatte er die Angewohnheit, herumzukritzeln und zu malen. Gewöhnlich Pflanzen. Farne, Blumen, auffällig ausgearbeitete Blätter. Gerade hatte er die spitzen Blätter und die gewölbten, geäderten Blütenblätter der Inssibirica, der Orchidee des armen Mannes, gezeichnet.

  »Treuhandfonds« wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen.

  Ihm kam es fast so vor, als heische dieses Wort nach Aufmerksamkeit. Jedenfalls machte es ihm gehörig Kopfzerbrechen. Barnaby nahm an, alles zu wissen, was es zu diesem Thema zu wissen gab. Er wußte, um was für eine Summe es sich handelte, wußte von Suhamis Entschlossenheit, das Geld wegzugeben, von dem Willen ihres Vaters, nicht so zu verfahren, von Craigies (laut Gamelin) vorgespielter Weigerung, das Geschenk anzunehmen. Der Chief Inspector zog einen dicken geraden Strich, riß die Seite ab und warf sie in den Mülleimer, doch das Wort ließ ihn nicht in Ruhe. Darum...

  Womöglich beschäftigte ihn gar nicht das Treuhandvermögen. Vielleicht ging es ja um etwas ganz anderes. Er spann den Gedanken weiter. Ging es um Vertrauen in jemanden oder den Glauben an etwas? Um den Mangel an Vertrauen, um Betrug? Betrug war nun mal das Handwerk des Betrügers. War Craigie von einem Anhänger ermordet worden, der ihm auf die Schliche gekommen war und sich von ihm getäuscht gefühlt hatte? Oder von dem aufgebrachten Opfer eines früheren Betrugs? Von jemandem, der vor Jahren übers Ohr gehauen worden war und der geduldig gewartet hatte, bis er aus dem Gefängnis entlassen worden war? Mit Zähigkeit und Durchhaltevermögen konnte jeder Mensch aufgespürt werden. In diesem Fall hätte Craigie doch sicher gewußt, um wen es sich handelte, und sich vorgesehen, oder?

  Troy brachte den Laborbericht. Wie gewöhnlich trug er enge Hosen, ein perfekt gebügeltes, weißes Hemd, das trotz der Hitze bis zum Hals zugeknöpft war, und eine schmale gemusterte Krawatte. Barnaby traf seinen Sergeant nur selten in der Freizeit und konnte daher nicht sagen, ob dessen Kleidungsstil immer so formell war, aber auf dem Revier krempelte er niemals die Ärmel hoch oder trug ein Freizeithemd. Ihm war Audreys Spekulation zu Ohren gekommen, die besagte, dies läge daran, daß Troy keine Haare auf der Brust hatte.

  Barnaby unterstellte diesem Erscheinungsbild komplexere Ursachen. Und er ging davon aus, daß die ordentlichen Berichte und der stets aufgeräumte Schreibtisch in dieselbe Kategorie fielen. Nachdem Troy das Büro betreten, sein Jackett aufgehängt und Kaffee bestellt hatte, richtete er seine Drahtablagekörbe so aus, daß die Ränder parallel zum Schreibtischrand standen, und bündelte lose Blätter zu einem ordentlichen Stapel. Manchmal rieb er mit seinem Taschentuch sogar einen unsichtbaren Flecken weg.

  Es erforderte wohl kaum einen geschulten Analytiker, um aus Troys Verhalten das Bedürfnis nach absoluter Kontrolle herauszulesen. Das Bedürfnis nach konstanter Ordnung, um das Chaos in Schach zu halten. Möglicherweise war es ein wenig oberflächlich, so ein Verhalten dahingehend zu interpretieren, daß es einen auf jeden und alles gerichteten Groll tief im Innern des Betreffenden symbolisierte. Na, wenn das nicht ein Anflug von der auf Windhorse praktizierten Psychologie war, was dann? Himmel, dachte Barnaby, als nächstes werde ich ihm wohlmeinende Ratschläge erteilen. In Erwartung, der Laborbericht stütze seine Vermutung, daß die Fasern von Suhamis Handtasche mit denen auf der Mordwaffe identisch waren, streckte er die Hand aus.

  Troy händigte ihm den Umschlag aus und schaltete den tragbaren Fernsehapparat ein, um sich die Elfuhrnachrichten anzusehen. Gesendet wurde ein Interview mit einer Miss Myrtle Tombs, der Postbotin von Compton Dando, die man so geschickt vor dem Herrenhaus aufgebaut hatte, daß der Eindruck entstand, sie stehe direkt in der Zufahrt. Sie hatte weder etwas über den Gamelin-Fall noch über die Bewohner des Hauses zu sagen, doch das tat sie besonders ausführlich und mit Hingabe. Troy schaltete das Gerät gerade noch rechtzeitig ab, um zu hören, wie sein Chef den Atem anhielt.

  Mit offenem Mund und leerem Blick stierte Barnaby auf den Laborbericht. Troy stellte sich neben ihn, zog den Bericht aus der schlaffen Hand seines Vorgesetzten, setzte sich und überflog ihn.

  »Das darf doch nicht wahr sein.« Er schüttelte den Kopf. »Die haben Mist gebaut.«

  »Sehr unwahrscheinlich. Das nennt sich Wissenschaft.«

  »Werden Sie das noch mal überprüfen?«

  »Sicher.«

  »Falls sie sich nicht geirrt haben, was bedeutet es dann für uns?«

  »Keine Ahnung.« Wie ein Irrer drückte Barnaby auf die Knöpfe. Man hätte meinen können, er werte das Untersuchungsergebnis als persönliche Beleidigung. »Dann sind wir echt angeschmiert.«

Felicity war aufgestanden, hatte sich angekleidet und saß nun vor dem offenen Fenster ihres Zimmers. Sie trug den Inhalt des Schweinslederkoffers: ein zweiteiliges, mit Mohn- und Wiesenblumen bedrucktes Seidenkostüm von Caroline Charles. Dazu gehörten passende, grasgrüne Wildlederstöckelschuhe von Manolo Blahnik, die vorn spitz zuliefen und die May umgehend in eine Schublade legte. Statt dessen bot sie Felicity ein Paar bequeme Slipper an. Ehe sie ihr die Schuhe anzog, hatte sie Felicitys Füße mit parfümiertem Öl massiert. Die kupferfarbene Haut erinnerte an zerknittertes Pergamentpapier; ihre Knöchel hatten denselben Umfang wie Mays Handgelenke.

  »Wir müssen Sie aufpäppeln«, hatte May lächelnd angedroht. »Mit einer Menge frischem Gemüse Und selbstgebackenem Brot.«

  »Oh, ich darf kein Brot essen.« Felicity beeilte sich, eine Entschuldigung nachzuschieben. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich muß Größe 36 halten.«