»Aus welchem Grund?«
»... nun...« Der Grund war, daß alle von Felicitys Bekannten und Freundinnen Größe 36 hatten. Kaum legten sie etwas Gewicht zu, besuchten sie eine Beauty-Farm und machten eine Diät, bis sie wieder in ihre Klamotten paßten. Aber weil die blühende und kerngesunde May siebenundsiebzig Kilo wog, erschien Felicity diese Erklärung sowohl niederträchtig als auch belanglos. »Keine Ahnung.«
»Sie haben eine sehr lange Reise vor sich, Felicity. Dafür werden Sie jede Hilfe brauchen können, die wir zu geben imstande sind, aber Sie müssen schon auch Ihren Teil dazu beitragen. Momentan sind Sie sehr schwach und können nur wenig tun, aber das wenige muß getan werden. Das ist Ihr Beitrag, wissen Sie?«
»Ja, May.« Die Vorstellung, auch einen Beitrag zu leisten, beunruhigte Felicity. Sie fürchtete, daß ihre Seele, brüchig wie Eis, angesichts dieser Anstrengung Schaden nehmen könnte. In der Klinik, wo sie in einem weich gepolsterten Traum gelebt hatte, war ihr Beitrag rein finanziell gewesen. Vielleicht meinte May genau das. Auf die nervöse Frage, ob dem so war, erhielt sie eine abschlägige Antwort. Felicity nahm all ihren Mut zusammen und fragte, was von ihr erwartet wurde.
»Fürs erste essen Sie ein wenig und ruhen sich aus. Später, wenn Sie zu Kräften gekommen sind, sehen wir weiter.«
Felicity streckte die Hand aus. In diesem Augenblick wurde sie von einer besonders lebhaften Erinnerung heimgesucht. Nach ihrer ersten Entziehungskur war sie zu Guy heimgekehrt und hatte ebenfalls die Hand ausgestreckt, woraufhin er sie als emotionalen Vampir bezeichnet und sich von ihr abgewandt hatte. May hingegen nahm Felicitys Hand zwischen ihre leicht parfümierten Handflächen, küßte sie und drückte sie an ihre Wange. Felicity spürte, wie das gefrorene Blut in ihren Adern auftaute.
»Sie haben hoffentlich nicht noch mehr von diesem gräßlichen Zeug, das Sie die Nase hochziehen?«
»Nein, May.«
»Das ist gut. Der Körper ist der Tempel, der Ihre unsterbliche Seele birgt. Vergessen Sie das nie. Und mißbrauchen Sie ihn nicht. Nun«, sie ließ vorsichtig die Hand los, »muß ich gehen ; und Janet bei der Zubereitung des Mittagessens helfen. Es wird eine wohlschmeckende Suppe geben, von der Sie unbedingt etwas probieren müssen.«
Entgegen ihrem Versprechen, noch einmal das Mittagessen zuzubereiten, war Janet nicht in der Küche. May begann das Gemüse vorzubereiten, schnitt Artischocken und Lauch klein und dünstete alles in Erdnußöl an. Sie warf einen Blick auf das Gewürzregal und fragte sich, welche Geschmacksrichtung Felicity wohl am ehesten zusagte. Die Suppe machte einen ziemlich blassen Eindruck. May überlegte, ob sie Safran zugeben sollte. Bruder Athelstans Kräuterbuch versicherte, daß es »jeden Mann munter machte«, merkte aber auch noch an, daß der norwegische Mystiker Nils Skatredt im Jahre 1462 eine Überdosis Safran zu sich genommen und mit einem Lachen auf den Lippen verstorben war. May stellte das kleine Döschen ins Regal zurück und griff nach einer Dose Lorbeerblätter.
Als die Suppe vor sich hin köchelte, begab sie sich auf die Suche nach Janet. Zuerst schaute sie in ihrem Zimmer nach. Janet war nicht da. Dafür lehnte ein Brief an einer Ausgabe von Pascals Pensées. May riß den Umschlag auf, begab sich danach gleich zum nächsten Telefon, um diesmal die Polizei - die sich sehr darüber echauffiert hatte, zu spät über Trixies Verschwinden informiert worden zu sein - rechtzeitig zu benachrichtigen.
»Sie schreibt, Chief Inspector, daß sie eine ziemlich genaue Vorstellung von Trixies Aufenthaltsort habe und sie - falls sie bis heute abend nicht zurückkehrt - uns anrufen und wissen lassen wird, was passiert... Überhaupt nicht. Es war mir ein Vergnügen. Wie geht es Ihnen? Und diesem armen jungen { Mann mit -«
Da ihr Gesprächspartner leider schon aufgelegt hatte, machte May sich auf die Suche nach den anderen, um auch sie zu informieren.
Von einer korpulenten Frau mit zwei riesigen Einkaufstüten eingezwängt, saß Janet am glühendheißen Fenster des Doppeldeckerbusses. Eine der Tüten lag halb auf Janets Knien. Die Frau machte leider keine Anstalten, sie wegzunehmen oder sich dafür zu entschuldigen. Beim Aufstehen fiel Janet auf, daß eine matschige Tomate Saft und kleine Kerne auf ihrem Rock hinterlassen hatte.
Heute trug sie anstelle ihrer Stretchhosen ein Sommerkleid mit tiefem Ausschnitt, langem, weitem Rock und grellblauem und braunem Schlierenmuster. Der tiefe Ausschnitt brachte eine faltige Mulde am Halsansatz zur Geltung. Um sie zu kaschieren, hatte Janet eine Halskette mit großen, transparenten Perlen, die an alte Hustenbonbons erinnerten, umgelegt. Unablässig zupfte sie nervös an der aufgesetzten Tasche des Kleides herum. Darin befanden sich die Instruktionen, wie man zu Seventeen Waterhome gelangte. (Das war tatsächlich die ganze Adresse gewesen. Laut Auskunft des Postbeamten handelte es sich um einen Wohnblock.) In der Tasche lag auch noch ein selbstgemachtes Lavendelsäckchen, das Heather ihr auf der Treppe in die Hand gedrückt hatte mit den Worten: »Es ist nichts Besonderes, Jan, aber es kommt von Herzen.«
An der Haltestelle stieg Janet aus, bog gemäß ihren Anweisungen nach rechts ab und dann noch mal nach rechts. An der roten Fußgängerampel fiel ihr Blick auf ein wunderschönes georgianisches Erkerfenster, das selbst schon ein Juwel war und zu einem Schmuckladen gehörte. Sie ging hinüber, um einen Blick in das Schaufenster zu werfen.
Die Auslage war spärlich, wie das immer der Fall ist, wenn die Preise der feilgebotenen Waren unbezahlbar sind. Nur etwas in Falten gelegter, elfenbeinfarbener Samt, ein Paar atemberaubende Ohrringe aus getriebener Bronze und ein Tuch, das wie achtlos hingeworfen dalag und in üppigem, strahlendem Grün und Türkis leuchtete. Daran hing ein kleines weißes Schildchen, dessen unbeschriebene Seite nach oben zeigte. Fast unbewußt betrat Janet den Laden, um sich das Tuch genauer anzusehen.
Das Objekt ihrer Begierde war ein Quadrat aus reiner Seide von erstklassiger Qualität und unglaublich glatter Oberflächenstruktur. Mit einer Seitenlänge von gerade mal achtzehn Zentimetern war es relativ klein. Genau von der Größe, daß man es - wie die Leute zu sagen pflegten - durch einen Ehering ziehen konnte. Janet malte sich aus, wie das Tuch auf Trixies Haupt aussehen und ihrem perfekten Teint einen hübschen Farbton verleihen würde. Das Tuch kostete einhundertzwanzig Pfund.
Beim Ausfüllen des Schecks überlegte Janet, wieviel Geld sie laut dem letzten Kontoauszug noch besaß. Die Verkäuferin packte das Tuch in eine schöne flache, schwarzweiß gestreifte Schachtel mit rotem Seidenpapier und band eine rote Schleife darum. Der Name des Geschäfts, XERXES, war in Gold auf den Schachteldeckel gedruckt.
Draußen auf der Straße freute sich Janet über den Kauf und stellte sich Trixies Gesicht vor, während sie das Band löste... den Deckel anhob... das Seidenpapier lüftete und schließlich das schöne Tuch zum Vorschein kam. Einen Moment lang fühlte sich Janet unglaublich glücklich. Doch dann regten sich wieder Zweifel.
Hatte Trixie jemals solche Farben getragen? Trixie mochte Pastelltöne: rosa, hellblau, beige. Und habe ich sie, fragte sich Janet nun, schon mal ein Tuch tragen gesehen? Sie besaß Tücher; sie lagen in ihrem Unterwäschefach, aber sie hatte sie nur sehr selten rausgeholt und getragen. Ach - wie angewurzelt blieb sie auf dem gepflasterten Gehweg stehen. Ein Mann rannte sie fast um und fluchte. Wie dumm hatte sie gehandelt. Dumm, unüberlegt. Idiotisch.
Was Trixie wirklich brauchte, was sie immer brauchte, war Geld. Geld hatte sie nie genug. Sie würde einen Blick auf dieses wunderschöne, überflüssige Geschenk werfen und denken: Gott - was hätte ich mit dem Geld alles anstellen können. Immerhin war sie in der Lage, den Preis des Geschenks ziemlich genau zu bestimmen; das konnte sie immer.