Er und Heather warfen ihren jetzigen Regenten einen schüchternen Blick von der Seite zu. Nachdem May und Arno ihnen gestern die frohe Botschaft überbracht hatten, hatten sie - wie alle anderen auch - ihre Überraschung und Zufriedenheit kundgetan, doch das Paar war sich längst nicht sicher, ob man ihnen jemals wieder vertrauen oder gut über sie sprechen würde. Ihr Lächeln verriet, wie bang ihnen ums Herz war. Im Haus läutete das Telefon. Heather rief: »Ich gehe, ich gehe!«
Damit war die Zusammenkunft aufgelöst. May verschwand, um für Felicity einen Kräuterschlaftrunk zuzubereiten. Suhami ging Calypso melken. Chris wollte sich ihr anschließen, wurde sanft zurückgewiesen, wagte einen neuen Versuch und ging schließlich ins Haus - mit zornroter, verdrießlicher Miene. Heather kehrte zurück, erklärte, der Anrufer habe sich in der Nummer geirrt, und fragte Arno, ob er ihr behilflich sein würde, Ken für seinen Spaziergang fertig zu machen. Auf ärztliches Drängen hin (es war wichtig, das gesunde Bein zu bewegen) humpelte er alle paar Stunden diskret auf und ab. Nun regte Heather an, eine kleine Runde durchs Dorf zu wagen. Glücklicherweise wurde das Tor nicht länger von Journalisten belagert.
Arno blickte ihnen hinterher. Ken beschwerte sich lautstark, daß die Strecke viel zu lang wäre. Einen Moment später trottete Arno in die Küche, um den Abwasch zu erledigen. Er war sich darüber im klaren, daß er sich eigentlich über das Verhalten der Beavers echauffieren müßte, aber sein eigener Seelenzustand war so labil, daß die Gegenwart anderer und deren Schwächen ihm gleichgültig waren.
Seine Veränderung hatte gestern eingesetzt. Kurz nach der bemerkenswerten Diskussion über das Testament des Meisters hatte der ansonsten äußerst zaghafte Arno so etwas wie ein unausgesprochenes Vertrauen gespürt. Er war erwählt! Gewiß nicht wegen seiner bemerkenswerten Fähigkeiten, was geistige Führung anbelangte (Arno hatte noch nie zu der Sorte Menschen gehört, die sich der Selbstüberschätzung hingaben), und dennoch hatte der Meister ihn für fähig gehalten. Gestern nacht hatte er vor dem Zubettgehen (er war sofort eingeschlafen) um Kraft und Stärke gebeten, um seine neue Verantwortung couragiert annehmen und ihr gerecht werden zu können.
Glücklich und gelassen wachte er auf, nur um gleich wieder neuen und beunruhigenden Gedanken nachzuhängen, die ihn zu Tode ängstigten. Geschwind sprang er aus dem Bett, als sorge Geschwindigkeit dafür, daß die schweren Gedanken in den Laken zurückblieben. Er kleidete sich an und stürzte sich umgehend auf seine Tätigkeiten und Pflichten. Heute erledigte er nicht nur die ihm übertragenen Aufgaben, sondern auch die Hälfte aller anderen, die auf der Liste eingetragen waren.
Leider mußte er feststellen, daß körperliche Aktivität nicht die richtige Antwort auf seine Befindlichkeiten war. Wie beschäftigt sein Körper auch sein mochte, seine Gedanken überschlugen sich, spülten immer wieder dieses eine und zutiefst beunruhigende Gefühl an die Oberfläche seines Bewußtseins. Seine leidenschaftliche Zuneigung zu May hatte ihn endgültig überwältigt, und da der Meister mit seinem letzten Willen sie und ihn noch enger zusammengebracht hatte, stand Arno kurz davor, sich ihr zu offenbaren.
Im Verlauf des Tages hatten sich dazu mehrere Gelegenheiten geboten, von denen ihm keine passend erschienen war. An einem bestimmten Punkt hatte er an Mays Vorliebe für alles Indigofarbene denken müssen, sich kurzentschlossen in den Garten begeben und jede blaue Blume, die er finden konnte, gepflückt. Mit einem Arm voller Lupinen, Rittersporne und Glockenblumen war er ins Haus zurückgekehrt, hatte dann aber allein bei dem Gedanken, sie ihr zu schenken oder seine Liebe zu gestehen, Angst bekommen und gekniffen.
Eins der Probleme - nun, eigentlich das Hauptproblem -war, daß Arno sich nicht länger einreden konnte, seine Gefühle für sie wären rein, nobel und spiritueller Natur. Inzwischen war ihm ein Licht aufgegangen: Es würde ihm in Zukunft nicht genügen, in platonischer Ergebenheit gemeinsam mit ihr den prosaischen Alltag zu verleben. Sie aus respektvoller Distanz zu verehren. Auf einmal wollte er mehr.
»Oh«, rief Arno laut in der Küche aus. »Ich bin kaum besser als ein wildes Tier.«
Gegen diesen Ausbruch von Zügellosigkeit hatte er sich zur Wehr gesetzt. Seine Duschbäder waren kälter geworden, seine Haut rosa von den rücksichtslosen Abreibungen mit dem Luffaschwamm. In Bruder Athelstans Kräuterbuch hatte er im Kapitel mit der Überschrift »Das Ablegen schlechter Stimmungen« nachgeschlagen und den Rat befolgt, Ysop zu sammeln, ihn im Backofen zu trocknen, zu zerbröseln und in Mandelöl zu rühren, die Paste auf den Bauch zu reiben, die Beine auf ein Kniekissen zu betten und zu ruhen. Pflichtschuldig hatte er die Prozedur vollzogen und sich hinterher tatsächlich besser gefühlt. Allerdings war seine Haut blau angelaufen.
Er war mit sich ins Gericht gegangen, was sich als schwierig herausstellte, hatte sich redlich bemüht, positiven Gedanken nachzuhängen, was ihm wiederum außerordentlich leichtgefallen war. Auch hatte er die vom Meister vielbeschworene innere Quelle allen Wissens strapaziert, ohne Ergebnis. Irgendwann war Arno an den Punkt gelangt, sein in Wallung versetztes Blut als gegeben hinzunehmen. Allein das Wissen, daß er anständig bleiben und seine Gefühle für sich behalten würde, spendete ihm Trost. Und anständig war er geblieben. Bis heute.
Erst heute war ihm ein Licht aufgegangen. Er hatte einsehen müssen, daß er keinen Frieden finden würde, wenn er seine Liebe nicht eingestand. Und daß sie ihm auf ewig verwehrt bleiben würde, sollte er versagen. Trotz des Meisters Verfügung spürte Arno, daß er in diesem Fall May in Zukunft nicht mehr mit seiner Gegenwart belästigen durfte. Den ganzen Tag über hatte er wie ein ängstlicher Soldat vor einer schicksalsschweren Schlacht nach positiven Vorzeichen Ausschau gehalten. Nach dem Mittagessen war ihm eins vergönnt gewesen. Beim Ausleeren der Tasse hatte der Teesatz im Spülbecken die Gestalt eines Herzens angenommen und Arno in Hochstimmung versetzt. Offenbar war der Zeitpunkt richtig gewählt. Er mußte die Sache endlich hinter sich bringen, und wie lange brauchte es schon, die drei Worte auszusprechen? Keine fünf Sekunden. Vielleicht etwas länger - immerhin hatte er sich entschlossen, ihr darüber hinaus noch ein paar Zärtlichkeiten zu sagen.
Bei dem Gedanken an diese Zärtlichkeiten stellten sich die Härchen in Arnos Nacken vor freudiger Erwartung auf. Möglicherweise war es eine gute Idee, ein Kärtchen mit seinem letzten Haiku zwischen die Blumen zu legen. Er zog es aus seiner Tasche.
May, Herzkönigin Bitter, ein Leben ohne dich Sei zusammen. Mit mir.
Die zweite Zeile, die eine Silbe zuviel hatte, machte ihm noch Kopfzerbrechen, andererseits hatte sie Überzeugungskraft und das richtige Tempo. Daran gab es keinen Zweifel.
Nach dem Abwasch und dem Abtrocknen stellte Arno die Gläser weg und fand dabei den Brandy. Versteckt hinter den Haferflocken, den Bohnen und den Trockenpflaumen. Gedankenlos nahm Arno die relativ volle und große Flasche herunter. Er schenkte ein kleines Schnapsglas voll und trank es in einem Zug leer.
Der Brandy brannte in seiner Kehle und veranlaßte ihn zu husten, doch danach fühlte er sich gleich wesentlich besser. Tatsächlich so viel besser, daß er sich auf der Stelle ein zweites Schnäpschen genehmigte. Dieses Glas ging ihm runter wie Öl. In seiner Brust breitete sich wohlige Wärme aus. Arno merkte, wie der Alkohol genau das bewirkte, was ein starkes Getränk bewirken sollte. Hemmungen abschüttelnd, überkam ihn jene Selbstsicherheit, die er brauchte, um seinen tapferen, draufgängerischen Auftritt zu bewältigen. Er beschloß, sich einen weiteren Brandy zur Brust zu nehmen, und ließ-sich auf einen Stuhl fallen.
Just in dieser Sekunde wurde er von ungebetenen Erinnerungen heimgesucht. Vor langer Zeit hatte er in einem Amateurtheater ein Stück gesehen. Es spielte in Rußland, und soweit Arno sich entsann, kamen darin zwei Charaktere vor, von denen alle anderen dachten, sie wären ineinander verliebt. Die Frau packte gerade, um wegzufahren, er stand neben der Tür. Sie nahm an, er würde sich ihr erklären, und er dachte das ebenfalls, aber er tat es nicht, und so ging sie weg, um als Gouvernante zu arbeiten. Die Verschwendung und das Pathos der ganzen Situation hatten Arno sehr angerührt. Nun wertete er die Erinnerung an das Schauspiel als Warnung und Aufforderung zugleich.