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  Damit ihn die Trauer nicht übermannte, gönnte er sich noch ein Gläschen Schnaps. Taumelte langsam zum Fenster hinüber, öffnete es und hielt den Kopf in die wohlriechende, seidenweiche Luft. Wie angenehm! Doch er konnte nicht leugnen, daß es ihn nach einer mutigeren Tat dürstete. Genau da hörte er das Cello.

  Sie spielte die Chakras, die - wie sie ihm einmal versichert hatte - der siebennotigen Tonleiter entsprachen. Woher er wußte, daß sie nicht einfach eine gewöhnliche Tonleiter spielte, konnte er nicht sagen. Lag es an dem besonders vollen Timbre, an der tieferen Resonanz in der Pause? Konnte man womöglich Farben hören? Sich am Rahmen festhaltend, stand er am Fenster und spitzte die Ohren, um keine einzige Note zu verpassen.

  Er hatte das Gefühl, in Freude und Selbstvertrauen zu ertrinken. Als wäre ihm die große Kraft, die es brauchte, um sie und sich selbst zu stützen - jetzt und in der Zukunft -, gerade eben zum Geschenk gemacht worden. Diese Kraft zog ihn nicht runter, sondern gab ihm Auftrieb. Er flog. Urplötzlich war er davon überzeugt, daß sie ihm gehören würde - das wußte er nun! Ihre ganze überschwengliche, unfaßbare Extravaganz. Als die Noten ertönten, erschuf Arno - in einem Anfall von Mannstollheit - die von ihm angebetete Musikerin neu und sah sie nicht mehr in einem englischen Landhaus sitzen, sondern auf einer von Gold eingefaßten Wolke mit einem glänzenden Helm quer durch den Himmel reiten. Ja, das war es!

  Seine große Chance, die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte. Sein großer Tag.

  Von diesem Bild angespornt, riß Arno die Blumen aus der Vase, blickte sich suchend nach einem Einschlagpapier um. Da nichts in der richtigen Größe, der richtigen Beschaffenheit, der richtigen Qualität vorhanden war, gab er sich mit einem Geschirrspültuch zufrieden. Er legte sich eine Strategie zurecht. Zuerst würde er ihr die Blumen überreichen, sich eine Zeitlang über die Schönheit ihrer Seele auslassen, über ihre erstaunliche physische Attraktivität und darüber, wie angenehm es war, mit ihr zu plaudern, sich dabei wie ein Mann von Welt verbeugen und sich dann zurückziehen. Durfte eigentlich nicht allzu schwierig sein. Jeder konnte ein bißchen Süßholz raspeln. Er legte das Kärtchen mit dem Haiku zwischen den Rittersporn und war gerade im Begriff, zur Tür zu gehen, als die Musik mitten in der Tonleiter (irgendwo zwischen dem Herz und dem Solarplexus) verstummte.

  Wie angewurzelt blieb Arno stehen und konzentrierte sich voll und ganz auf die sich ausbreitende Stille. Was war denn los? War sie krank? Ein Angstschauer lief ihm über den Rücken, bis er sich wieder gefaßt hatte. May war niemals krank. Diese rubenesken Gliedmaßen, diese strahlenden Augen und diese bemerkenswerte Oberweite waren nicht nur gesund, sondern unzerstörbar.

  Höchstwahrscheinlich legte sie nur eine Pause ein, um eine neue Seite aufzuziehen. Oder den rechten Arm auszuruhen. Mitten in der Tonleiter? Während er zögerte, überlegte, seinen Blumenstrauß umklammerte, drang ein anderes fremdes Geräusch an seine Ohren. Ein bittersüßer, reiner Ton, unterbrochen von kurzem, gurgelndem Stöhnen. Zuerst interpretierte er es als Gesang. Andererseits war der Vortrag wenig musikalisch, erinnerte ihn vielmehr an mittelalterliche französische Balladen, die meistens von einer Flöte begleitet dargeboten wurden. Schließlich verschaffte eine unglaubliche traurige Kadenz ihm Klarheit. Sie sang nicht, sie weinte.

  Überwältigt von Anteilnahme und Sorge, lief Arno den Korridor hinunter. Über ihr Instrument gebeugt, saß May auf dem Hocker und hielt den Bogen in die Luft, als beabsichtige sie, gleich weiterzuspielen. Ihre Wangen waren benetzt. Ihr Profil kündete von Trauer. Arno blieb auf der Türschwelle stehen. Ihr Anblick brach ihm das Herz. Er brachte kein Wort über die Lippen, nichts, nicht mal einen einzigen tröstenden Satz, geschweige denn seine ritterliche Liebeserklärung.

  Zuerst bemerkte sie ihn vor lauter Trauer gar nicht. Zögerlich wagte sich Arno mit seinem Blumenstrauß in der Hand ins Zimmer. Sie drehte sich um und sagte einfach: »Oh, Arno - ich vermisse ihn so sehr.«

  Das genügte. Befreit und kühn näherte sich Arno ihr. Rief: »Liebste May«, umarmte sie und rückte mit der Sprache heraus.

  Ab da wurde die Sache ein wenig kompliziert. May erhob sich. Auf ihrem Antlitz spiegelte sich eher Verwirrung denn Sorge oder Ablehnung. Arno, der sich an ihren breiten, in Seide gehüllten Schultern festhielt, rutschte ab. Darauf folgte eine kurze turbulente Rangelei mit in Falten gelegtem, rutschigem Stoff, kräftigen kurzen Beinen, losen, tiefblauen Blütenblättern, glänzendem Rosenholz, gefolgt von einem Aufschrei elementarer Heftigkeit. Ob dieser von Freude oder Zorn ausgelöst wurde, konnte im nachhinein unmöglich geklärt werden.

Es war kurz vor sieben. Mit hinter dem Kopf gefalteten Händen saß Barnaby an seinem Schreibtisch, überdachte die vielen verschiedenen Details des Falles und hing überhitzten, abgestandenen Gedanken nach. Ein Labyrinth aus Gesichtern, Stimmen, Schaubildern und Fotos. Welches Puzzleteilchen würde Licht ins Dunkel bringen? Durchaus möglich, daß dieses Puzzleteilchen noch gar nicht gefunden worden war. Wo soll ich das in dem Fall noch hernehmen, fragte er sich?

  Daß ein Großteil der Informationen verworfen werden konnte, bezweifelte er nicht. Im Moment war er hingegen noch nicht bereit, diesen Schritt zu wagen. Er ließ seine verspannten Schultern kreisen, hob und senkte sie, um die Blutzirkulation anzuregen. Troy warf einen Blick auf die Armbanduhr.

  »Ich nehme mal an, daß die Leute auf Windhorse ihr Abendlied anstimmen«, sagte er. »Oder tanzen. Oder welchen komischen Dingen sie ansonsten nachgehen.«

  »Seien Sie nicht so, Troy. Womöglich werden auch Sie eines Tages wiedergeboren.«

  »Wenn Sie mich fragen, hätten die meisten Leute, die wiedergeboren werden, nicht mal beim ersten Mal auf die Welt kommen dürfen.«

  Barnaby lachte, woraufhin Troy ihm einen verunsicherten Blick zuwarf. Manchmal reagierte sein Chef so. Verzog angesichts der klügsten Scherze keine Miene, fiel aber vor Lachen fast vom Stuhl, wenn man es ernst meinte. »Es wird Zeit, Sir.«

  »Vielleicht kommt ja noch was rein.«

  »Dachte, Sie hätten gesagt, heute sei Cullys Geburtstag.« Barnaby konnte die unverhohlene Wollust, die jedes Mal in Troys Tonfall mitschwang, wann immer er Cullys Namen erwähnte, nicht leiden. »Wird es keine Party geben?«

  »Eine kleine. Wir feiern heute auch noch ihre Verlobung.«

  »Ach ja. Und was macht er?«

  »Ist Schauspieler.«

  »Dann wird er bald im Fernsehen zu sehen sein«, sagte Troy.

  Ohne etwas zu erwidern, stierte Barnaby auf den Stapel mit den Aussagen. Die von Gamelin lag obenauf. Verbarg sich auf dieser abgetippten Seite oder auf einer der anderen eine Zeile, die neu interpretiert werden konnte? Eine Information, die man in einem anderen Licht betrachten mußte?

  Voller Sympathie musterte Troy seinen Chef. »Ich setze mein Geld auf diesen Meister Rakowsky. Jemand, der umsonst juristischen Beistand gewährt, kann nichts Gutes im Schilde führen. Die meisten Anwälte verlangen fünfzig Pfund nur fürs Handschütteln.« Er kicherte. »Und wo wir schon von Anwälten sprechen - haben Sie sich noch mal Gedanken über Miss Cuttle und diesen Gibbs gemacht? Ich meine - da haben wir doch ein Motiv. Elisabethanisches Herrenhaus, viel Grund und Boden, ganz zu schweigen von dieser Ziege. Ich weiß, vordergründig kommen sie einem wie unschuldige Idealisten vor -«