»Idealisten sind nie unschuldig«, sagte Barnaby, ohne aufzublicken. »Sie verursachen die Hälfte aller Probleme, mit denen die Welt momentan zu kämpfen hat. Sehen Sie sich das hier an.« Troy nahm Guy Gamelins Aussage in die Hand, las sie durch und warf Barnaby einen nichtssagenden Blick zu. »Erzählt uns was über den Mord, was wir bislang noch nicht gewußt haben.«
Troy runzelte die Stirn. »Nein, tut sie nicht.«
»Doch, tut sie. Lesen Sie noch mal.«
Troy las die Aussage noch zweimal durch. »Ohhh...« Er zuckte mit den Achseln. »Und - was für einen Unterschied macht das?«
»Möglicherweise«, Barnaby forderte die Aussage zurück, »bringt es uns dazu, die ganze Sache von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Das ist nie schlecht, wenn man nicht weiterkommt.«
»Richtig.« Troy wandte sich schnell ab, um einem Vortrag über Unvoreingenommenheit zu entgehen. »Müssen Sie jetzt nicht los?«
»Hmm.« Barnaby erhob sich, ohne den Blick von dem Blatt Papier zu nehmen. »Ich denke, morgen werden wir uns noch mal mit dem verrückten Jungen unterhalten müssen. Versuchen Sie rauszufinden, warum er felsenfest davon überzeugt ist, daß Craigies Tod ein Unfall war. Und wieso er solche Angst hat. Gibbs hat definitiv versucht, eine Begegnung zwischen ihm und uns zu vereiteln. Nächstes Mal muß ein anderes Kommunenmitglied dabeisein. Vielleicht haben wir dann mehr Glück.«
»Wann fängt sie an - die Feier?«
»Um halb sieben.«
»Dann schaffen Sie’s gerade noch.«
Barnaby machte »Hmm«, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und schaltete seinen Monitor ein. Troy verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte er nur am einundzwanzigsten Geburtstag seiner Tochter im Büro rumhängen?
»Ich werde dableiben.« Ein überraschter Blick. »Die Abfütterung und das Baden des Babys habe ich ohnehin schon verpaßt, wozu also die Eile?«
»Das ist sehr nett von Ihnen, Gavin«, meinte Barnaby und dachte an die arme alte Maureen. »Aber mehr werden wir heute abend wahrscheinlich nicht rausfinden. Außerdem bin ich ja daheim erreichbar. Trotzdem - ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»So bis gegen neun?«
»Gut. Bis dann bin ich bestimmt wieder zurück.«
»Aber sicher, Chief«, sagte Troy und dachte an die arme alte Cully.
Als Barnaby weg war, hing er gehorsam eine halbe Stunde lang im Büro herum, stattete dem Hauptbüro ein paar Besuche ab, unterhielt sich mit dem diensthabenden Personal, nahm ein paar unwichtige Telefonate entgegen. Gelangweilt beschloß er, in der Kantine zu Abend zu essen und hinterließ die Nachricht, daß - falls seine Frau anrief - man ihr sagen sollte, er sei nicht da, und, für den Fall, daß etwas reinkam, was mit der Windhorse-Sache zu tun hatte, man ihn umgehend rufen sollte.
Nicht der Hunger trieb ihn in die Kantine. In der Abendschicht arbeitete eine neue Assistentin. Verheiratet und, wollte man den Gerüchten Glauben schenken, nicht wirklich abgeneigt, was Neues auszuprobieren. Er stellte Spaghetti, Pommes und einen Becher dünnen Tee auf sein Tablett und trug es zur Registrierkasse. Mit Vergnügen bemerkte er die falschen Augenwimpern, den engen Overall, den pinkfarbenen Schmollmund. Ihre Lippen glänzten, als fahre sie oft mit der Zunge darüber. Vielleicht voller Vorfreude? Er bekam fünfzig Pence heraus. Als sie ihm die Münze reichte, klimperte sie mit den Wimpern und sagte: »Das sollten Sie für blinde Hunde spenden.«
»Blinde Hunde?« Troy entdeckte die Dose und ließ die Münze reinfallen. In seinen Augen war die Spende eine Investition. »Arme Viecher. Es ist ja nicht so, als ob man es ihnen erklären könnte, nicht wahr?« Sie verzog keine Miene. Auch gut. Schließlich war er nicht hinter ihrem Humor her.
Später kam sie zum Geschirrabräumen an seinem Tisch vorbei. Troy klopfte auf den neben ihm stehenden Stuhl, und als sie sich setzte, gestand er ihr, wie sehr es ihm gefallen würde, die Lederpolsterung zu sein. So ging es eine Weile zwischen ihnen hin und her. Sie kicherte ungemein sexy. Ihr ganzes Verhalten war überaus angenehm, um nicht zu sagen vielversprechend. Mit Bedauern sah Troy, daß sie, nachdem man in der Küche nach ihr gerufen hatte, aufstand. Er bestellte ein Stück Pfefferminzkuchen mit Vanillesoße, bezahlte und trödelte an der Kasse herum. Nach dem Verzehr der Süßspeise und einer weiteren Tasse Tee (beim Bezahlen harrte er wieder die längste Zeit an der Kasse aus), zündete er eine Zigarette an, inhalierte langsam, blies den Rauch aus und sah zu, wie er kräuselnd zur Decke stieg. Alles sehr zeitintensiv, und später tat es ihm natürlich unendlich leid. Aber woher hätte er denn wissen sollen, daß seine Trödelei jemandem das Leben kostete.
Punkt halb sieben traf Barnaby daheim ein. Wie sich herausstellte, hatte sich die Doppelfeier (Geburtstag und Verlobung) in ein Fest verwandelt, bei dem nun ein dritter Anlaß gewürdigt wurde: Nicholas, der sein letztes Jahr auf der Central School of Speech and Drama absolvierte, hatte die begehrte Gielgud-Medaille verliehen bekommen.
Er hatte den Ödipus gespielt, war ganz in Weiß gekleidet und vor Selbstgerechtigkeit strotzend die Bühne auf und abgeschritten, hatte entschlossen die Korruption ausgerottet, um am Ende des Stückes - nun in Rot gehüllt - erkennen zu müssen, daß er selbst ebenfalls korrupt war. Seine Darbietung hatte unerhört angeberisch gewirkt. Sein Leiden war derart stilisiert und extravagant gewesen, daß es sich beinah ins Gegenteil verkehrt und komisch gewirkt hätte, doch im Kern war es authentisch geblieben. Nun war er für diese Leistung ausgezeichnet worden. Nicholas, der schlagartig - quasi wie die Jungfrau zum Kind - zu einem Agenten gekommen war, war jetzt im Besitz der lebenswichtigen Equity Card und mit einer bemerkenswerten jungen Dame verlobt. Wen wunderte es da, daß er sich als König der Welt fühlte?
Er und Cully unterbrachen einander fortwährend, lachten über alles und nichts. Hie und da warf Barnabys Tochter ihre dunkle, mit eingeflochtenen Blüten verzierte Mähne nach hinten. Sie trug einen langen scharlachroten Baumwollrock, dessen Saum mit vielfarbigen Bändern verziert war, und eine weiße mexikanische Rüschenbluse mit so weiten Ärmeln, daß der Stoff eines Ärmels für eine neue Bluse gereicht hätte.
»Ich kann euch gar nicht sagen«, verkündete Nicholas beim Verzehr der Estragoneier, »wie unerhört angenehm es war, mit Phoebe Catchpole zu arbeiten.«
»Sie war nicht schlecht«, kommentierte Cully gnädig.
»Um ehrlich zu sein«, bemerkte Joyce an, »ich hielt sie für sehr gut.«
»Doch ihre Größe, Darling«, fuhr Nicholas fort. »Das war gerade so, als habe man es mit einem Rhinozeros zu tun. Bei >Oh - verloren und verdammt< -, wißt ihr, kurz vor ihrem letzten Abgang, lehnte sie sich an mich. Ich fürchtete schon, durch die Holzdielen gedrückt zu werden. Die einzige erwachsene Studentin in meinem Jahrgang, und man gibt ihr die Rolle der Iokaste. Sie ist alt genug, um meine Mutter zu sein.«
Dieser Kommentar brachte alle zum Lachen. Diesmal war es Nicholas, der seine langen haselnußbraunen Haare über die Schultern warf. Das junge Paar scherzte und erblühte und strahlte sich über den gedeckten Tisch hinweg an. Nichts als Jugend, Schönheit und feuriges Talent. Die beiden halten sich zweifellos, sinnierte Joyce kritisch, für Viv und Larry de nos jours. Auch gut - das Leben würde sie schon noch zurechtstutzen. Das Leben, das Theater, die Menschen. Joyce empfand gleichzeitig Trauer, Irritation und Neid. Beim Einsammeln der Teller sagte sie: »Ich kann einfach nicht verstehen, warum die Psychiater das sexuelle Verlangen des Sohnes nach seiner Mutter Ödipuskomplex nennen. Im Grunde genommen geht es in diesem Stück doch genau darum, daß er nicht weiß, daß sie seine Mutter ist.«
»Findest du nicht, daß Teiresias anrührend war?« Cully pickte das letzte bißchen Gelee auf. »Vor allem während der letzten Rede.«