»Ach, komm schon«, entgegnete Nicholas geschwind. »Er hat eine Stimme wie ein Maiskuchen.«
Die größte Tugend ist Großmut. Als Joyce das Geschirr raustrug, dachte sie, daß Nicholas lernen mußte, seine Zunge zu hüten, falls er weiterkommen wollte. Noch in der Küche konnte sie hören, wie die beiden die irrsinnigsten Pläne schmiedeten.
»Es ist großartig, daß es einen weiblichen Boten gegeben hat«, meinte Cully. »Bei dem ganzen blutigen Durcheinander auf der Bühne sind das immer großartige Rollen.«
»Überbrachten sie schlechte Nachrichten«, rief Joyce, »"wurden sie nach draußen geführt und geköpft.«
»Großer Gott«, sagte Nicholas. »Wie kommt man nur zu so einem Job?«
»Wie zu allen anderen auch«, erwiderte Cully schlagfertig. »Man hängt im Groucho’s rum.«
Mehr Gelächter. Cullys kam tief aus der Kehle, hatte genau den richtigen Ton, die richtige Lautstärke. Das Läuten kleiner Silberglocken. Nicholas Lachen war warm, dunkel, maskulin, wie aus einem Rasierwerbeclip.
Joyce richtete Sainsbury’s Enchiladas, Basmatireis und eine große Schüssel Eichenlaubsalat her. Auf dem Tisch standen schon zwei entkorkte Flaschen eines schweren portugiesischen Rotweins. Zum Nachtisch sollte es Chocolate-Butter-Pecan-Eiscreme geben. Sie rief: »Ich könnte Hilfe gebrauchen.«
»Ich weiß immer noch nicht, wie ich mich entscheiden soll«, sagte Nicholas und brachte somit das Gespräch wieder auf seine Zukunft. Ihm waren eine feste Besetzung in Stratford und mehrere Parts am Octogon angeboten worden. »Ich denke, verschiedene Rollen sind immer besser.«
»Klar doch.« Cully kam aus dem Staunen nicht heraus. »Was willst du werden? Schauspieler - oder irgendein Straßenkomödiant, der mit großen Augen zu Ian McKellans bestrumpften Beinen aufsieht?«
»Ich nahm an, er sei am National?«
»Oder du könntest in einer Produktion enden, die im Sande verläuft.«
Nicholas bekam einen Schreck. »Im Sande verläuft?«
Die Platten mit dampfenden Köstlichkeiten auf einem Tablett anrichtend, merkte Joyce, daß Tom neben ihr stand, und trug ihm auf, es ins Eßzimmer zu bringen. »Bemüh dich doch bitte, an dem Gespräch teilzunehmen, Liebling.«
»Wie bitte?«
»Sag was.«
»Ich höre zu.«
»Nein, tust du nicht.«
»Die würden es doch gar nicht mitkriegen, wenn wir hier in der Küche essen würden.«
»Führe mich nicht in Versuchung«, sagte Joyce in dem Wissen, daß er sich irrte. Schauspieler merken immer, wenn das Publikum verschwindet. Sie nahm den Wein, und Cully schenkte ein, während sie Nicholas versicherte, wie glücklich Bolton sich schätzen durfte, ihn zu haben. Nicholas sagte: »Bitte, keine Anhimmelei.«
»Richtig, ihr beiden.« Barnabys Stimme war laut und fest. Der Tadel entging Nicholas nicht. Cully setzte eine Büßermiene auf und lächelte. Gläser wurden hochgehoben. »Auf euren zukünftigen Erfolg. Auf die Plakatwände und alles andere auch. Werde glücklich, Liebling.«
Alle tranken einen Schluck. Dann kam Cully um den Tisch herum, küßte den Scheitel ihrer Mutter, die Wange ihres Vaters. Für einen Augenblick versperrte ihr herabfallendes Haar ihm die Sicht, und da spürte er mit voller Wucht, daß er sie verlor, obgleich er sich schon vor langer Zeit damit abgefunden hatte.
»Danke, Dad, Ma.« Sie saß schon wieder auf ihrem Platz.
Nicholas griff nach ihrer Hand, schob seine schlanken Finger zwischen ihre, führte ihre Hand an seine Lippen und gestand: »Ich möchte nicht zu lange von London Weggehen.«
»Herrje, Nicholas, sagte Joyce leicht genervt. »Gerade vor fünf Minuten hast du die Schauspielschule verlassen. Du mußt Erfahrungen sammeln.«
»Was mir wirklich Spaß machen würde«, meinte Nicholas, »was mir wirklich was bringen würde, denke ich jedenfalls, wäre, wenn ich mich für eine Zeitlang vom gesprochenen Theater zurückzöge. Mich in Pantomime weiterbilden würde. Vielleicht sollte ich in einem Zirkus arbeiten. Das wäre phantastisch.«
»Um dich als Pantomime weiterzubilden, mußt du nach Spanien gehen«, gab Cully zu bedenken. »Oder nach Frankreich.«
»Einer der Verdächtigen in meinem jetzigen Fall arbeitete in einem spanischen Zirkus«, sagte Barnaby. »Als Löwenbändiger.«
»Und - hatte er Erfolg?« wollte Nicholas wissen.
»An dem Abend, an dem wir uns verlobten, haben wir uns einen Pantomimen angesehen«, erzählte Joyce. »Weißt du noch, Tom? Im Saville. «
»Natürlich weiß ich das noch.« Diese spezielle Erinnerung, die - wenigstens eine Zeitlang - jeden Gedanken an seine Arbeit auslöschte, war ihm willkommen. »Haben zuvor im Mon Plaisir zu Abend gegessen.«
»Und war sie gut?« fragte Nicholas. »Die Company?«
»Das war nur ein Mann. Marcel Marceau.«
»Er hat den Ruf, brillant zu sein«, meinte Cully.
»Das war er auch«, bestätigte Barnaby. »Füllte die Bühne mit Menschen. Sprach mit ihnen, tanzte mit ihnen. Man hätte schwören können, daß sie tatsächlich da waren. Es gab diese Szene, wo er gegen den Wind anlief, und man konnte praktisch sehen, wie er von ihm weggetragen wurde.«
»Toll«, sagte Cully. Sie und Nicholas hatten aufgehört zu essen.
»Meiner Meinung nach war die beste Szene die«, warf Joyce ein, »mit der er den Abend beendete. Er hatte einen Stapel Masken - natürlich nur in der Einbildung - und setzte sie nacheinander auf. Sein eigenes Gesicht ist sehr schön und unglaublich beweglich, wie Gummi. Alle Masken waren unterschiedlich. Er hielt sie schnell hoch, und jedes Mal veränderte sich sein Gesichtsausdruck komplett. Am Ende hatte er einen schrecklich tragischen Ausdruck. Und konnte die Maske nicht wieder ablegen. Er zog und zerrte und riß schließlich die Ränder ab. Dabei wurde er immer wilder, hektischer. Das Ding ging einfach nicht runter. Und obwohl die Maske sich abnehmen ließ, konnte man trotzdem noch erkennen, was dahinter war. Das war wirklich faszinierend. Seine Panik zu sehen, als er begriff, daß er für den Rest seines Lebens so aussehen würde.«
Nach dieser dramatischen Schilderung herrschte vollkommene Stille. Wie verzaubert saßen Cully und Nicholas auf ihren Stühlen. Barnaby ritzte mit seiner Gabel Rillen ins Tischtuch. Nach einer Weile fand Nicholas seine Sprache wieder. »Gott - was gäbe ich darum, wenn ich das hätte sehen dürfen.«
»Er gibt immer mal wieder eine Vorstellung. Und wir sprechen andauernd davon, uns noch eine seiner Vorstellungen anzuschauen, schaffen es dann aber nie. Ist es nicht so, Tom?«
Keine Antwort. Cully wedelte ein paarmal mit den Händen vor den Augen ihres Vaters. Auf Nicholas Kichern hin riet sie ihm: »Tu das nicht. In diesem Haus ist es ein schweres Verbrechen, sich über die Polizei lustig zu machen.«
»Jetzt mal im Ernst, Tom«, erkundigte sich Joyce, »bist du in Ordnung?« Er war blaß, wirkte in sich gekehrt, starrte vor sich hin, als wisse er nicht, wer sie war. Alle drei bekamen einen großen Schreck.
»Doch.« Endlich schaute er auf, registrierte ihre Besorgnis. »Ich bin... tut mir leid. Es geht mir gut. Selbstverständlich geht es mir gut.« Er lächelte sie an. »Entschuldigt. Es geht mir wirklich gut. Ja.«
»Es geht dir nicht gut«, wiedersprach Joyce. »Du tust nur so.«
»Wir sollten noch mal ins Mon Plaisir gehen. Zu unserer Silberhochzeit. Alle zusammen.«
»Ich werde die Eiscreme holen.« Joyce verschwand in der Küche und rief über ihre Schulter: »Die wird dich beruhigen.«
Zu der Sekunde, als sie einen Blick durch die Durchreiche warf, klingelte das Telefon. Eine kurze Bewegung, und sein Stuhl war leer.
Während der Wagen durch die dunkle Nacht rollte, unterhielten sich die beiden Männer miteinander, sortierten die Fakten. Gleich nachdem Troy ihn daheim angerufen hatte, hatte Barnaby gewußt, was Sache war. Den Einblick, den der Chief Inspector beim Abendessen erhalten hatte, untermauerte seine Theorie nur noch.